Frau Stuckhatorin ist die Behelfsbezeichnung für eine namentlich nicht sicher bekannte Frau, die für die unsignierten Scagliola-Arbeiten der Chorgestühlrückwände (Dorsale), des Kastulusaltars sowie an sechs Eckpilastern der von 1652 bis 1748 gebauten Stifts- und Pfarrkirche St. Lorenz in Kempten verantwortlich war. Diese ungeklärte Meisterfrage beschäftigt seit Jahrzehnten zahlreiche Historiker.[2] Die Handwerkerin ist eine der wenigen Stuckateurinnen des 17. Jahrhunderts und eine der wenigen Frauen, die an der Gestaltung der Kirche beteiligt waren. Sie wirkte in einer Zeit, in der Männer und Frauen nicht gleichberechtigt waren und Frauen in Zünften kein Mitglied sein durften; sie waren höchstens als gering bedeutend in Textilzünften (Weber und andere Textilzünfte) beteiligt.[3]
Zur Identifizierung der historischen Person hinter der Behelfsbezeichnung wird meist die Münchner Meisterin Barbara Hackl vorgeschlagen, aber auch eine Maria Salome Freismich ist genannt worden.
Quellen des Behelfsnamens „Frau Stuckhatorin“
BearbeitenAb 1660 begann der Innenausbau der Stiftskirche. In Vermessungen aus dem Jahr 1666 des Baumeisters Johann Serro findet sich offenbar erstmals in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „Stuckhatorin“, ein Name wird dabei nicht genannt. Im Oktober 1669 klagte eine Frau Stuckhatorin gegen den Rechnungsführer der Hofkammer des Fürststifts Kempten. Im Januar 1670 verlangte sie monatlich acht Gulden als Honorar für ihre von April bis Dezember 1669 geleistete Arbeit und fragte, ob man sie in ihrem Handwerk weiter beschäftigen möchte, da das benötigte Material wie Gips, Farben und Alabaster, abgesehen von einem Bergblau, noch vorhanden sei. Insbesondere war der Chorstuhl des Kardinals Bernhard Gustav von Baden-Durlach noch nicht fertig. Zunächst gelang keine Übereinkunft. Bald gab die Hofkammer den Forderungen nach. Später reichte die weiterhin namentlich unbekannte Stuckhatorin ein Verzeichnis ihrer von 1668 bis 4. Februar 1670 gefertigten Arbeiten ein. Weitere Aufträge erhielt sie nicht, da die Baukosten bereits sehr hoch waren und das Fürststift mit der Großbaustelle, bestehend aus der neuen Kirche und der Residenz, hoch verschuldet war. Die Platten für das Chorgestühl sind aufgrund der Wichtigkeit für den ausschließlich adeligen Klerus fertiggestellt worden.[4]
Meisterfrage
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Blumenkomposition mit Wappen des Fürststifts
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Architekturdarstellung, hier eine Kirche
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Architekturdarstellung mit Durchblick auf eine Landschaft
Der Kunsthistoriker Norbert Lieb (1907–1994) schrieb 1957 im Kunstmagazin Das Münster als erster die Scagliola-Arbeiten einer Barbara Fistulator zu.[5] Lieb weist darauf hin, dass in Süddeutschland die Scagliola-Kunst eng mit dem Münchner Hof und der Familie Fistulator verbunden war, die vom Hof bezahlt wurde und hauptsächlich mit Arbeiten für die Münchner Residenz beschäftigt war. Seit 1613 hatte der Bayerische Hof das Monopol für Scagliola-Arbeiten, und die Scagliola-Technik unterlag der Geheimhaltung, so dass kein Unberufener diese Technik ausüben konnte. Es kamen für diese Tätigkeit also nicht viele Frauen infrage. In den Kemptener Archivalien wird mehrmals eine Frau Stuckhatorin mit dem Vornamen Barbara genannt, ein weiterer Hinweis auf Barbara Fistulator.[6] Es handelte sich um die aus München stammende Stuckateurmeisterin Barbara Hackl. Ab 1624 hatte Hackl als Gesellin am Münchner Hofe die von Herzog Maximilian I. privilegierte Scaliogla-Technik bei Blasius Pfeiffer erlernt, der auch als Blasius Fistulator (um 1585–Juni 1622) bekannt war. Fistulator ist die Latinisierung des Namens Pfeiffer. Im Jahr 1621 heiratete Barbara Hackl dessen Sohn Wilhelm Pfeiffer (Wilhelm Fistulator; † 10. Januar 1669), woraufhin sie auch Barbara Fistulator genannt wurde. Mit Wilhelm Pfeiffer hatte sie mit den Söhnen Franciscus (1626–1660) und Ferdinand (1640–1679) sowie der Tochter Maria Theresia (1634–1707) insgesamt drei Kinder. Maria Theresia soll später mit ihrem Ehemann Andreas Römer eventuell bei der Scagliola-Tätigkeit mitgeholfen haben. Die beiden Söhne waren zumindest zeitweise als Stuckateure der Fistulatoren-Familie in München tätig. Um 1665 soll Barbara Hackl nach Kempten gekommen sein und in der neuen Stifts- und Pfarrkirche St. Lorenz in Kempten (Allgäu) die Scagliola-Arbeiten am Chorgestühl und an den Eckpilastern im oktagonförmigen Chor geschaffen haben.[5] Bei den Fruchtgehängen und Blumenranken im Herzkabinett der Münchner Residenz gibt es Ähnlichkeiten mit den Kemptener Arbeiten und ebenso bei der Wandverkleidung des Grottenzimmers, verglichen mit den ovalen Scagliolaplatten in den Kartuschen im Aufsatz des Chorgestühls.[7]
1958/59 wurden die Arbeiten der ab 1652 in Kempten nachweisbaren, mutmaßlich einheimischen Maria Salome Freismich († 10. Februar 1695) zugeschrieben, gelegentlich taucht auch die Variation des Nachnamens Freitmich und Freutmich in den Kirchenbüchern auf. Maria Salome Freismich war die Ehefrau des weniger bekannten Bildhauers Georg Schmölz (Schmelz), mit dem sie später drei Kinder hatte.[8] Eventuell hat Barbara Hackl ihr diese als aufwendig geltende Handwerkskunst beigebracht und Freismich lediglich die in geringerer Qualität und unterschiedlichen Formaten gefertigten Medaillons im Holzaufsatz erstellt. Denn ein Medaillonrahmen enthält auf der Rückseite die eingeschnitzte Zahl 1678, was auf eine spätere Aufstellung der Medaillons auf dem Gestühl hindeutet. Möglich ist aber auch, dass die Medaillons eingelagert waren.[9]
Frau Freismich wird nur von einem Autor in Erwägung gezogen und in der weiteren Forschung nicht mehr erwähnt. Da wird stets Barbara Hackl als sehr wahrscheinliche Urheberin genannt. Ihre letzten Arbeiten in Kempten führte sie 1670 aus. Laut Pfarrmatrikel ist Hackl am 4. Mai 1674 beerdigt worden.[7][10][11] Im Bereich der Johanneskirche in Kempten-Haubenschloß erhielt in einem Wohngebiet ein Verkehrsweg den Namen Barbara-Hackl-Straße ⊙ .
Werke
BearbeitenFrau Stuckhatorin arbeitete in dem Verfahren Scagliola mischia (italienisch für „gemischter Stuckmarmor“). Diese Technik bedient sich der Kunst des Stuckmarmors, in dem durch Schichten aus unterschiedlichen Werkstoffen (organisch und anorganisch) und das Schleifen der Oberfläche eine Vielfarbigkeit erreicht wird, die Gestein (Pietra dura) simuliert.[12] Der Kunsthistoriker Norbert Lieb bezeichnete diese Scagliola-Arbeiten als einzigartig.[5]
- Dorsale im Chorgestühl (bis 1670; 35 von 40 erhalten)
- Sechs Wandfüllungen in den Eckpilastern des Chors (ca. 1666)
- Antependium (vor 1668) und zwei Blumenvasendarstellungen (1669/70) im Kastulusaltar
Dorsale im Chorgestühl
BearbeitenAuffällig ist bei den Scagliola-Arbeiten in den Dorsalen des Chorgestühls der Stiftskirche St. Lorenz, dass sie keine religiösen oder christlichen Motive zeigen. Motivisch lassen sich die Arbeiten in Landschaftsdarstellungen, Architekturdarstellungen (hierbei mit einem Durchblick in eine Landschaft) und Blumenkompositionen kategorisieren. In den „bizarren Phantasielandschaften“[13] sind häufig Personen erkennbar: am Ufer ein Fischer mit Angelrute, zwei Personen auf einem Floß oder einem Boot, zwei Mönche in Kutte oder ein Wanderer mit einem Hund. Es sind Ruinen, Burgen, Brücken und Kirchen abgebildet. Im Hintergrund sind Silhouetten von Siedlungen erkennbar.
Manchmal sind diese Ausführungen von quasi-architektonischen Ornamentalrahmen umgeben. Einige wenige Arbeiten zeigen das Wappen des Fürststifts Kempten mit dem Kopf der Stifterin Hildegard, der Frau Karls des Großen. Zwei weitere Platten tragen die Wappen der Fürstäbte Roman Giel von Gielsberg und Bernhard Gustav von Baden-Durlach, seines Koadjutors.[14]
Das Chorgestühl bestand ursprünglich aus 40 Sitzen, die 1844 oder 1848 vollständig abmontiert und zerteilt wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt standen die mit zwei Reihen zu je 19 Sitzen leicht oval vor dem Hochaltar (Marienaltar). Separat war der Stuhl des Fürstabts sowie seines Stellvertreters, des Priors.[9]
Spätestens 1848 wurden nur 28 Sitze – ihrem Ursprungszweck entfremdet – hinter den vier Pfeilern des Oktogons an den Wandschrägen aufgestellt, vier Stallen mit Scagliola befanden sich zunächst in der Kirche verteilt. Seit der Kirchenrestaurierung 1994 befinden sich die vier Stallen in der Empore der Chorkuppel. Drei Einzelplatten sind in musealer Verwendung, fünf gingen verloren.
Sybe Wartena stellte im Jahr 2010 die Hypothese auf, dass ein Teil der seit 1848 als Rückwände des Gestühls (Dorsale) genutzten Platten ursprünglich keine Dorsale waren, wie man bisher angenommen hatte, sondern als vertikale Platten bei der vorderen Reihe unterhalb des Pults angebracht waren. Ginge man stattdessen von der bisherigen Annahme aus, wäre in der zweiten Reihe die Sicht versperrt bzw. müsste diese Reihe auf einem hohen Podest mit steiler Treppe gestanden haben, was laut Wartena nicht nachvollziehbar sei.[9]
Kastulusaltar
BearbeitenDie Scagliola-Arbeiten im Kastulusaltar stammen von „Frau Stuckhatorin“, wie der Stilvergleich zeigt: Im Antependium mit dem Marienmonogramm in der Mitte ranken sich Blumen und Blätter auf schwarzem Grund. Es gehörte ursprünglich zu einem früheren, 1668 aufgestellten Hauptaltar. Später wurde dieser ersetzt. Das Antependium wurde 1684 in den neuen Altar eingebaut. Die davon seitlich gelegenen Scagliola-Einlagen zeigen amphorenartige Gefäße mit Pflanzenrankwerk auf schwarzem Grund. Diese beiden Einlagen stammen von der 1685 ersetzten Kanzel aus dem Jahr 1670.[15]
Wandfüllungen in Eckpilastern
BearbeitenDie sechs hohen, lisenenartigen Füllungen in den Eckpilastern seitlich der drei Chorarme (Nord-, Ost-, Südchorarm), eine davon 1666 eingesetzt, folgen dem gestalterischen Konzept im Kastulusaltar. Aus Vasen steigt ein Rankenwerk aus Blüten und Blättern auf schwarzem Grund.[16]
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ die Rückwand im Chorgestühl
- ↑ Alexander Herzog von Württemberg: Stadt Kempten (= Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]: Denkmäler in Bayern. Band VII.85). Verlag Schnell & Steiner, München/Zürich 1990, ISBN 3-7954-1003-7, S. 102.
- ↑ Margret Wensky: Frau – C. Die Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft – III. Die Frau in der städtischen Gesellschaft. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 4. Artemis & Winkler, München/Zürich 1989, ISBN 3-7608-8904-2, Sp. 864 f.
- ↑ Martha Roediger: Die Stiftskirche St. Lorenz in Kempten: Ein Beitrag zur Geschichte der süddeutschen Barockarchitektur. August Hopfer, Burg bei Magdeburg 1938, S. 74–76.
- ↑ a b c Norbert Lieb: „Die Frau Stuckhatorin“ der Stiftskirche in Kempten. In: Das Münster. 10. Jg., Heft 3/4. Schnell und Steiner, München 1957, S. 124 f.
- ↑ Elena Agnini, Anne-Marie Haagh-Christensen, Gabi Schmidt, Ingrid Stümmer: Herstellung, Technik und Restaurierung von Stuckmarmorarbeiten. Die Scagliola Platten im Chorgestühl von St. Lorenz in Kempten. In: Restauro, Zeitschrift für Kunsttechniken, Restaurierung und Museumsfragen. 102. Jg., Heft 2. Callwey Verlag, München 1996, ISSN 0933-4017, S. 102.
- ↑ a b Michaela Liebhardt: Die Münchner Scagliolaarbeiten des 17. und 18. Jahrhunderts. Dissertation. München 1987, S. 160.
- ↑ Rudolf Schmid: Vergessene Mitarbeiter melden sich. In: Heimatverein Kempten (Hrsg.): Allgäuer Geschichtsfreund. Kempten 1958/1959, S. 51–53.
- ↑ a b c Sybe Wartena: Die Süddeutschen Chorgestühle von der Renaissance bis zum Klassizismus. Dissertation an der LMU München. München 2008, Kapitel 15.1: „Kempten“, S. 349–369 (904 S., deutsche-digitale-bibliothek.de ( des vom 14. März 2018 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. [PDF; 600 kB; abgerufen am 13. März 2018]).
- ↑ Erwin Emmerling: Zur Ausstattung der ehem. Benediktinerstifts- und Pfarrkirche, der heutigen Stadtpfarrkirche St. Lorenz in Kempten. In: Die Restaurierung der Basilika St. Lorenz in Kempten (= Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. Band 72.) Edition Lipp, München 1994, ISBN 3-87490-542-X, S. 97.
- ↑ Anmerkung: In gewissen Publikationen wird wiederum behauptet, Hackl sei 1678 auf eigenen Wunsch nach Wien umgezogen („Bürgerfleiß und Fürstenglanz.“ Reichsstadt und Fürstabtei Kempten. Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg 1998, ISBN 3-927233-60-9, S. 284).
- ↑ Wanja Wedekind: Scagliola: Auf den Spuren zu möglichen Ursprüngen und Verbreitungen einer europäischen Kunsttechnik. In: ICOMOS – Hefte des Deutschen Nationalkomitees. Bd. 50, München 2010, ISSN 2365-5623, S. 213–221.
- ↑ Josef Focht: Das Gloria der Engel im Fürststift Kempten. Kunstverlag Peda, Passau 1998, ISBN 3-89643-098-X, S. 32.
- ↑ Hugo Naumann: Kempten Basilika St. Lorenz. Kunstverlag Peda, Passau 2011, ISBN 978-3-89643-836-2, S. 17 f.
- ↑ Michaela Liebhardt: Die Münchner Scagliolaarbeiten des 17. und 18. Jahrhunderts. Dissertation. München 1987, S. 149 f.
- ↑ Michael Petzet: Stadt und Landkreis Kempten (= Bayerische Kunstdenkmale. Band 5). Deutscher Kunstverlag, München 1959, DNB 453751636, S. 10, 15 f.
Literatur
Bearbeiten- Wanja Wedekind: Scagliola: Auf den Spuren zu möglichen Ursprüngen und Verbreitungen einer europäischen Kunsttechnik. In: ICOMOS – Hefte des Deutschen Nationalkomitees. Band 50. München 2010, ISSN 2365-5623, S. 213–221.
- Sybe Wartena: Die Süddeutschen Chorgestühle von der Renaissance bis zum Klassizismus. Dissertation an der LMU München. München 2008, Kapitel 15.1: „Kempten“, S. 349–369 (904 S., deutsche-digitale-bibliothek.de [PDF; 600 kB; abgerufen am 13. März 2018]).
- Michaela Liebhardt: Die Münchner Scagliolaarbeiten des 17. und 18. Jahrhunderts. Dissertation. München 1987.
- Elena Agnini, Anne-Marie Haagh-Christensen, Gabi Schmidt, Ingrid Stümmer: Herstellung, Technik und Restaurierung von Stuckmarmorarbeiten. Die Scagliola Platten im Chorgestühl von St. Lorenz in Kempten. In: Restauro, Zeitschrift für Kunsttechniken, Restaurierung und Museumsfragen. 102. Jg., Heft 2. Callwey Verlag, München 1996, ISSN 0933-4017, S. 100–107.
Weblinks
BearbeitenPersonendaten | |
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NAME | Frau Stuckhatorin |
KURZBESCHREIBUNG | Stuckateurin |
GEBURTSDATUM | 17. Jahrhundert |
STERBEDATUM | 17. Jahrhundert |