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Wissen und Informationsmüll
Es gibt ein rationalistisches Denkmodell, in dem das Anhäufen von Wissen ein Wert an sich ist. Jede Erkenntnis wirft jedoch Fragen auf, und das vorher nicht gewußte Nichtwissen zeigt sich. Das ist kein Mangel, sondern die Bedingung: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Es gibt zudem das prinzipielle Nichtwissenkönnen in den Naturwissenschaften, ein Beispiel findet sich in Aussagen in der Heisenbergschen Unschärferelation über die Unbestimmbarkeit von Quanten. Und im Alltag müssen wir, um relevantes Wissen nutzen zu können, anderes Wissen in das Unbewußte verlagern und manches Wissen ganz vergessen.

Welchen Wert hat Wissen aus Sozialwissenschaft, Ökonomie, Medizin, Kultur, Politik (und anderen Bereichen) für die Nutzer von Wikipedia? Welches Wissen ist relevant? Zweifellos das lebensentscheidende Wissen und durchschaubar gemachtes Herrschaftswissen. Ohne den Spaßfaktor des Inspirierenden, Unterhaltenden und Trivialen bliebe es jedoch weitgehend verschlossen. Kann dieses Wissen hier so aufbereitet und in seiner Qualität gesichert werden, dass es zuverlässig und auf Dauer für Suchende Besseres bietet als Artikelwüsten, gefiltertes Internet und Halden digitalen Informationsmülls?

Die Abwesenheit relevanten Wissens wurde konventionell auf zuwenig Information zurückgeführt. In der komplexeren Informationsgesellschaft beruht sie ebenso auf Überforderung durch Informationsüberflutung. Mit einem Nervensystem, das ein Zuviel an Information nicht ausreichend aufbereiten und gewichten kann, navigieren wir durch „allwissende Müllhalden”, die alles anpreisen was wir nicht brauchen, das wirklich Gesuchte in unmittelbar brauchbarem Zustand jedoch nicht bieten. Noch aus der Chance, dass es vorhanden sein könnte, wird ein Geschäft der Mitgliedschaften und abgeschöpften Personeninformation, der Werbung und der digitalen Wegezölle gemacht. Es gibt deshalb einen gesellschaftlichen Bedarf an komprimiert präsentierter, verläßlicher und allgemeingültiger Information, online frei verfügbar, in enzyklopädischer Form.

Digitale Unendlichkeit, eine Fikiton
Bietet die digitale Unendlichkeit von Wikipedia nicht mühelos die Lösung, solange Strom fließt? Dieser enzyklopädische Raum ist in sich anders geartet und flexibler als konventionelle Enzyklopädien, zudem unter einer gewissen Kontrolle der Benutzer und Autoren und (hoffentlich für immer) werbefrei. Die qualitativen Möglichkeiten (und Probleme) darin sind vielen Autoren jedoch nicht bewußt oder werden aus Eigennutz ignoriert. Einige nehmen tatsächlich an, Wikipedia sei eine quantitative Unendlichkeit, die mit möglichst viel Information gefüllt, automatisch Wissen ergäbe. Benutzer die so denken, schätzen die Arbeit von Qualitätssicherungen in Wikipedia manchmal gering oder erschweren sie gelegentlich sogar bewußt. Quantitative Unendlichkeit gibt es für Menschengemachtes jedoch ebensowenig wie das Perpetuum Mobile. Mehrere Grenzen werden gewöhnlich nicht bedacht, im Fall von Wikipedia sind es mindestens folgende:

  • Die technische Speicherfähigkeit herstellen und sichern ist ein permanenter komplexer Aufwand. Der Betrieb der Datenspeicher und Zugänge hat ökonomisch und ökologisch eine Bedeutung. Ob das erreichte Niveau bei globalen Krisen bis in alle Zukunft gehalten werden kann, weiß niemand. Auf digitalen Datenspeichern verliert sich Information in kurzen Zeiträumen.
  • Gesammelte Daten sind kein Wissen. Es erzeugt kein brauchbares Wissen, die informationsverarbeitende Maschine mit banalen Daten zu füllen. Sie müssen durch Qualitätssicherung zeitgemäß aufbereitet, dauernd gepflegt und auffindbar gehalten werden, um langfristig wertvolles Wissen zu sein, das verstanden werden kann.
„Wissen fällt nicht vom Himmel, sondern muß von informationsverarbeitenden Agenten oder sozialen Akteuren vor-, her-, um-, dar- und ausgestellt werden: Es muß, auch im Blick auf die Verfahren, Praktiken und Strukturen, die zu seiner Verfertigung benutzt werden, gewußt werden. Gäbe es eine informationsverarbeitende Maschine, die genau wüßte, was sie tut, besäße sie Wissen. Das scheint nach allem, was wir wissen, bislang nicht der Fall zu sein.”[1]
  • Je unkonzentrierter, beliebiger und ausgedehnter die Quantitäten sind, in denen gesucht wird, desto weniger relevantes Wissen ist darin zu finden. Es nützt wenig, wenn Wissen einmal „gewußt” und „verstanden” wurde, aber nicht mehr gesucht wird, oder wenn gefunden, nicht anwendbar ist. Wissen muß immer neu gesucht und interpretiert werden.
  • Der Kreislauf ist erst geschlossen, wenn Wissen eingegeben wird, das für die Benutzer so interessant ist, dass sie es selbst ausreichend pflegen. Information, die weder gepflegt noch beseitigt wird, verwandelt sich in Informationsmüll, der die Attraktivität der Wissenssammlung herabsetzt. Ohne Qualitätssicherung und Relevanzkriterien würde Wikipedia beliebig und wäre weniger wert.
„An den neuen Technologien kann man mehr noch als die Vor- die Nachteile von Systemen studieren, die - wie die Maschinen - nicht vergessen können. Was löschen? heißt das Problem.”[2]

Qualitätssicherung als qualitativer Exklusionismus und qualitativer Inklusionismus
Vor diesem Hintergrund gehört das qualitative Löschen ebenso wie das Reparieren verunglückter Lemmata zu einer umfassenden Qualitätssicherung:

  • Qualitatives Löschen: Qualitatives Löschen richtet sich gegen jeglichen „Löschwahn”. Es ist verantwortungsbewußtes, wenn möglich, verständlich kommuniziertes, wenn möglich „sozialverträgliches” Löschen. Dazu kann jedoch ebenso gehören, gegen das Behalten von Lemmata vorzugehen, die Interessierte ignorant durchdrücken wollen. Wenn es zum Wohle des Projektes Wikipedia unvermeidbar ist, muß Löschen gegen Widerstände möglich sein. An der Entwicklung von Wikis, die Relevanzkriterien ablehnen, wird auf längere Sicht Weiteres zu diesem Thema ablesbar sein.

Ob bei der verunglückten Kommunikation in Löschdiskussionen ein unvermeidbares Dilemma, eine schlechte Kommunikationskultur oder ein durch Maßnahmen reparierbarer Systemfehler vorliegt? Jedenfalls ist Wikipedia in diesem Punkt ständig verbesserungsbedürftig.

  • Qualitatives Behalten: Neben dem selbstverständlichen Neuentwickeln bisher fehlender Lemmata, das gelegentlich nicht ohne Löschdiskussion oder Markierung für die Qualitätssicherung abläuft, geht es bei einer umfassend verstandenen Qualitätssicherung auch darum, Lemmata zu Erkennen und zu Entwickeln, die als Informationsmüll eingebracht werden oder vorliegen, an sich jedoch relevant sind. Wenn relevante Lemata abgelehnt werden, weil der Artikel schlecht ist, und sich keine Autoren finden, die es besser machen, ist das ein Verlust. Könnte für das Erkennen und Entwickeln solcher Lemmata mehr getan werden?

Falsch angewendet stehen „Löschen” und „Qualitätssicherung” gegeneinander, richtig angewendet sind es unverzichtbare, sich ergänzende Prozesse.

Einzelnachweise

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  1. Gerhard Gamm: Der Kluge Kopf. Unwissenheit, Ignoranz, Urteilskraft - Tabus der Wissensgesellschaft. In: Lettre International. Nr. 89, 2010, ISSN 0945-5167, S. 123,11.
  2. Gerhard Gamm: S. 125,8.