Persönlichkeitsrechte – eine Grenze für die Summe allen Wissens?

Diese Seite erläutert, warum Persönlichkeitsrechte eine Grenze für die Summe „allen Wissens“ darstellen.

Der Text beruht auf Vorträgen auf der Wikimania 2016 in Esino Lario und auf der WikiCon 2016 in Kornwestheim. Er behandelt ein Thema, das sowohl rechtliche als auch kulturelle Aspekte hat und insbesondere die Wikipedia-eigene Kultur betrifft. Dabei gehe ich auf meine Erfahrungen sowohl als Wikipedianer als auch als im Bereich des Medienrechts tätiger Rechtsanwalt ein, zumal dieses Thema in der Community bislang recht selten diskutiert wird.

Einleitung

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Wikipedia und das Urheberrecht

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Wikipedia und das Urheberrecht – eine komplizierte Beziehung.

Wenn wir uns andere rechtliche Grenzen für die Verbreitung von Wissen ansehen, stößt man zuerst auf das Urheberrecht.

Wir Wikipedianer bemühen uns stets, das Urheberrecht zu beachten, was – wie wir alle wissen – sehr schwierig sein kann. Über die Jahre haben wir Wikipedianer beachtliches Wissen im Bereich des Urheberrechts aufgebaut. Jimmy Wales hat neulich in einem Zeitungsinterview gesagt: „Irgendwie sind wir alle gewissermaßen Amateuranwälte in Bereichen wie dem Urheberrecht geworden.“

Der Wunsch der Community, Urheberrechte zu beachten, ist sogar eines der Grundprinzipien der Wikipedia. Gleichzeitig kämpfen Wikipedianer dafür, dass das Urheberrecht selbst vernünftige Grenzen hat – und ich freue mich sehr, dass es Wikipedianern gelungen ist, sich erfolgreich für die Einführung der Panoramafreiheit in Belgien im Juli 2016 einzusetzen. Aus meiner Sicht ein großartiger Erfolg für Wikimedia Belgien.

Vom Urheberrecht zum Persönlichkeitsrecht

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Und was ist mit Persönlichkeitsrechten?

Verglichen mit dem Urheberrecht und im Zusammenhang mit Wikipedia ist das Persönlichkeitsrecht nichts anderes als eine weitere Grenze für die Verbreitung der Summe allen Wissens. Ganz einfach ausgedrückt versucht das Persönlichkeitsrecht, die Privatsphäre einer Person zu schützen, indem es anderen untersagt, in einer aufdringlichen Weise über sie zu sprechen – genau wie das Urheberrecht die schöpferischen Werke einer Person schützt, indem es anderen verbietet, sie ohne Zustimmung zu verbreiten. Aber aus meiner Sicht gehen Wikipedianer mit dem Persönlichkeitsrecht ganz anders um. Das hat eine Reihe von Gründen, die ich gern erläutern möchte.

Wikipedia und das Persönlichkeitsrecht

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Der erste Grund ist, dass das Persönlichkeitsrecht schwer zu fassen ist – es gibt keine einfach zu befolgenden Regeln; stattdessen drehen sich die Dinge mehr um den Ausgleich unterschiedlicher Prinzipien, auf die ich noch eingehen möchte. Außerdem würde ich sagen, dass wir es hier mit zwei kulturellen Unterschieden zu tun haben.

Rechtskultur

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Es liegt an unterschiedlichen Rechtskulturen.

Der erste kulturelle Unterschied ist der zwischen verschiedenen Rechtskulturen. Beiderseits des Atlantiks existieren abweichende Ansichten über Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht.

Aus einer westlichen Perspektive haben wir die Vereinigten Staaten als Beispiel auf der einen Seite, wo das Recht und soziale Normen dem Recht des Einzelnen auf die Kundgabe der eigenen Meinung große Bedeutung beimessen, was dazu führt, dass das Recht der freien Meinungsäußerung oftmals Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsrecht hat.

Wenn wir uns dagegen Deutschland als Beispiel auf der anderen Seite ansehen, zeigt sich, dass wir als kontinentaleuropäisches Land relativ viel Gewicht auf das Recht des Einzelnen legen, für sich zu bleiben. Wir verbinden dieses Prinzip in rechtlicher Hinsicht sogar mit der Menschenwürde. Und als deutscher Jurist finde ich es spannend zu beobachten, wie sehr die amerikanische Rechtskultur unser Projekt insgesamt beeinflusst hat.

Wikipedia-Kultur

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Wikipedia-Kultur spielt auch eine Rolle.

Der zweite und noch wichtigere kulturelle Unterschied, auf den ich hinweisen möchte, ist der zwischen dem Selbstbild, das wir als Wikipedianer von uns haben, und dem Rest der Gesellschaft. Letzten Endes sind Wikipedianer nämlich Idealisten. Unsere Vision ist es, die Summe allen Wissens jeder Person auf dem Planeten verfügbar zu machen. Deshalb versuchen Wikipedianer, Informationen zu jedem denkbaren Thema zu sammeln und zu verbreiten. Letztlich wurzelt dieses Ideal in der Philosophie der französischen Aufklärung und verleiht Wikipedianern die Überzeugung, dass sie die Verantwortung für einen unbeschränkten Zugang zu Informationen tragen. Wir sehen uns als neutrale Überbringer von Fakten und und diese Tätigkeit als Dienst an der Gesellschaft als solcher. Wir wollen objektive, korrekt belegte Fakten präsentieren – nichts als die Wahrheit. Deshalb hat das Persönlichkeitsrecht im Wikiversum keine besondere Bedeutung – was zu Überschriften wie dieser führt:

 
Wikipedia warns against French attempt to extend EU privacy law globally Reuters, 10. Juni 2016

Aus diesen beiden kulturellen Motiven hat es das Persönlichkeitsrecht schwer, wenn es um das Schreiben von Wikipedia-Artikeln geht. Und ich finde, dass wir unsere Herangehensweise an das Persönlichkeitsrecht ändern sollten. Wir sollten anerkennen, dass wir als Gemeinschaft gegenüber den Personen, über die wir schreiben, eine gemeinsame Verantwortung tragen. Meiner Meinung nach setzt das Persönlichkeitsrecht unserem Ziel der Verbreitung der „Summe allen Wissens“ wesentliche Grenzen – und die Community ignoriert das nach wie vor.

Persönlichkeitsrechtsschutz von Wikipedianern

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Wikipedianer sorgen sich vor allem um ihre eigenen Persönlichkeitsrechte.

Dabei gibt es bezüglich dieser Beobachtung eine Ausnahme. Das Prinzip des Persönlichkeitsrechts wird nämlich sehr hoch gehalten, wenn es um die unverletzlichen Persönlichkeitsrechte der Autoren selbst geht – während die Persönlichkeitsrechte anderer ignoriert werden, sowohl in den Kernregeln als auch darüber hinaus. Als Mitglied der Datenschutzombudsmann-Kommission, habe ich erfahren, wie wichtig es Wikipedianern ist, ihre Anonymität zu schützen.

Unsere Verantwortung

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Die Aufgabe

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Ziel ist es, die richtige Balance zu finden.

Angesichts ihrer enormen Reichweite muss die Wikipedia-Gemeinschaft jedoch akzeptieren, dass wir nicht alles über jeden berichten können und dass die Relevanz nicht der einzige limitierende Faktor ist. Biografien zum Beispiel müssen zwischen Informationen aus der öffentlichen oder Sozialsphäre und persönlichen Informationen unterscheiden, die in die Privatsphäre eingreifen und daher nicht in einem Artikel veröffentlicht werden sollten, der für jeden im Internet abrufbar ist.

Und wenn wir das Leben eines Menschen in einem Wikipedia-Artikel beschreiben, reicht es nicht aus, einfach nur „auf der guten Seite“ zu stehen und alle Community-Regeln und -Standards einzuhalten. Nicht jede persönliche Information, die aus Sicht der Wikipedia als relevant gilt und ordnungsgemäß belegt werden kann, hat solche Bedeutung für das Allgemeininteresse, dass sie das Persönlichkeitsrecht einer Person überwiegt.

 
Die Regeln der Community sollten das widerspiegeln.

Wir als Community benötigen mehr und bessere Regeln zum Persönlichkeitsrecht. Solche Regeln aufzustellen, ist jedoch schwer, weil es immer darum geht, verschiedene Prinzipien gegeneinander abzuwägen, und weniger darum, klare Linien zu befolgen, die man leicht verstehen und befolgen kann. Deshalb brauchen wir eine breiter aufgestellte Diskussion mit der Community über das Persönlichkeitsrecht und seine Beachtung.

 
Gerechtfertigte und missbräuchliche Anfragen zu unterscheiden, ist schwer.

Die Gefahr des Missbrauchs

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Es ist mir selbstverständlich bewusst, dass es sich hier um ein zweischneidiges Schwert handelt. Es gibt unzählige Beispiele von Leuten, die zu Unrecht eine angebliche Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts geltend gemacht haben. Und es ist mir vollkommen klar, dass es wichtig ist, unsere Inhalte gegen diese Bedrohung zu schützen.

Was ist unsere Rolle beim Schutz von Persönlichkeitsrechten?

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Aber in vielen Fällen verwehren wir uns einfach gegen jedweden Versuch, Persönlichkeitsrechte geltend zu machen, weisen wir das Anliegen einfach zurück, ohne inhaltlich darauf einzugehen. Wenn wir uns dieses Problem genauer ansehen, finden wir eine Reihe von Ausreden für dieses Verhalten.

Quellen sind keine Ausrede

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Die erste Ausrede ist die einfachste: Wir verweisen einfach auf unsere Quellen. Der Ansatz ist, dass wenn wir eine Information an einem anderen Ort, also zum Beispiel in einer Zeitung, in einem Buch oder sogar in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung finden können, sie nicht mehr „privat“ sein kann und deshalb nicht gelöscht werden muss. Natürlich ist diese Ausrede nie ein valider Grund. Denn nur weil jemand anderes auch eine Persönlichkeitsrechtsverletzung begangen hat, bedeutet das nicht, dass jeder andere auch das Recht dazu hat.

Wir machen die Regeln nicht

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Die zweite Ausrede liegt darin, mit dem Finger auf den Artikelgegenstand zu zeigen. Wie ich schon gesagt habe, sind Wikipedianer Idealisten, und wir sind davon überzeugt, dass wir „die Guten“ sind. Dementsprechend stilisieren wir die auf der anderen Seite stehenden Menschen manchmal als „die Bösen“ hoch. Es könnte sein, dass es sich um Kriminelle handelt oder um Menschen, die nicht nach unseren selbstaufgestellten Regeln spielen, indem sie zum Beispiel bezahlte Schreiber be­auf­tragen oder, Gott bewahre, mit rechtlichen Schritten drohen. Dabei sollte man im Hinterkopf behalten, dass diese Menschen möglicherweise nur ihre tatsächlich bestehenden Rechte durchsetzen möchten.

Relevanz ist auch keine Ausrede

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Die dritte Ausrede hat endlich eine tatsächliche Verbindung zum Persönlichkeitsrecht – aber auch nur auf den ersten Blick. Wenn wir nämlich entscheiden, dass etwas oder jemand die Relevanzhürde genommen hat, um einen Wikipedia-Artikel zu rechtfertigen, verstehen wir das als Freifahrtschein, jede beliebige Information zum Thema zusammenzutragen. Es mag manche hier im Raum überraschen, aber das Recht kennt den Begriff der „Relevanz“ nicht. Das Recht versucht vielmehr, eine ausreichende Balance zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der Privatsphäre des Betroffenen herzustellen. Und der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass Prominente (so genannte Personen des öffentlichen Lebens) genauso ein Recht auf den Schutz ihrer Privatsphäre haben wie jeder andere auch. Wenn jemand also eine so genannte „Person der Zeitgeschichte“ ist und die Öffentlichkeit großes Interesse am Leben dieses Menschen hat, gibt es dennoch Bereiche in seinem Leben, die geheim bleiben müssen. Es ist natürlich vollkommen klar, dass es extrem schwer ist, hier eine klare Grenze festzulegen.

Aktuelle Entwicklungen

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Das Recht auf Vergessenwerden ist real.

Die „Google Spain“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang in zweierlei Hinsicht relevant: Erstens betont sie den Grundsatz, dass das Persönlichkeitsrecht ein Kernprinzip auch des europäischen Rechts ist, wobei das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das Persönlichkeitsrecht eines Menschen in manchen Fällen überwiegen kann.

Aber auch eine andere Erkenntnis des Gerichtshofs ist für uns von Bedeutung: Google wurde für ein Suchergebnis haftbar gemacht, das nur auf die Website mit dem rechtsverletzenden Inhalt verwies. Und der Gerichtshof verurteilte Google dazu, dieses bloße Suchergebnis zu löschen, obwohl klar war, dass Google hier nur als Intermediär handelt und nur den Zugang zu Informationen ermöglicht, die an einem anderen Ort verfügbar sind. Denn darin lag der Kern der Persönlichkeitsrechtsverletzung des Klägers: Es war nicht die alte Randnotiz im Online-Archiv einer kleinen spanischen Zeitung, sondern die Tatsache, dass jedes Mal, wenn jemand den Namen des Klägers in eine Suche eingab, diese ansonsten lange vergessene Geschichte sofort hochkam. Wikipedia ist dagegen natürlich kein Intermediär wie Google. Die Community trifft eigene, unabhängige Entscheidungen darüber, ob sie eine Information in einen Artikel aufnimmt und wann sie die dort hinterlegten Inhalte pflegt. Wir werden zukünftig definitiv eine höhere Anzahl von Beschwerden erhalten, in denen es um Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Vergessenwerden geht. Deshalb ist es wichtig anzuerkennen, dass wir Schritte unternehmen müssen, die Persönlichkeitsrechte unserer Artikelgegenstände zu schützen und von Fall von Fall korrekte Entscheidungen zu treffen.

Offenheit

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Wir sollten mit dem Thema Persönlichkeitsrechtsschutz offener umgehen.

Unsere Communityregeln verweisen diejenigen, die einen Artikel in ihrem Sinne verändern möchten, auf die Diskussionsseite – aber ihr könnt euch vorstellen, dass so eine Diskussionsseite für einen unerfahrenen Benutzer nicht gerade so leicht zugänglich ist, wie es uns erfahrenen Autoren scheint. Außerdem möchte niemand eine Verletzung der eigenen Persönlichkeitsrechte gegenüber einer anonymen Community auf einer öffentlich zugänglichen Website diskutieren. Deshalb ist der häufige Rat wenig hilfreich, einfach eine Nachricht auf der Diskussionsseite zu hinterlassen. Die betroffenen Personen wenden sich daher häufig an die Mitglieder des OTRS-Teams, die dann „im Geheimen“ versuchen, eine Lösung zu finden. Aber das lässt die Community bei Änderungen von Biografien misstrauisch werden und die hohe Zahl unbegründeter Beschwerden und die konstante Bedrohung durch anonym agierende PR-Agenturen macht die Sache nur noch schlimmer. Die Betroffenen geben dann häufig auf, weil sie sich angesichts ihres Problems nicht zu helfen wissen.

Die Community, das OTRS-Team eingeschlossen, kann diese Angelegenheiten häufig nicht klären, weshalb sich der Betroffene dann häufig an die Wikimedia Foundation wendet, deren Rechtsabteilung der Meinung ist, dass sie ein starkes Mandat hat, unbegründete Beschwerden mit aller Vehemenz zurückzuweisen. Und damit wären wir wieder beim Anfang meines Vortrags, denn die Juristen bei Wikimedia sind Amerikaner und legen andere Maßstäbe an, als ich es als Europäer tun würde.

Zusammenfassung

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Um zusammenzufassen, denke ich, dass

  • wir anerkennen müssen, dass das Persönlichkeitsrecht der Summe allen Wissens, wie wir es veröffentlichen können, Grenzen setzt.
  • Wir müssen das Thema Persönlichkeitsrechte in einem kulturellen Zusammenhang betrachten.
  • Wir müssen uns drittens unserer Verantwortung bewusst werden, indem wir uns um einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit bemühen.
  • Schließlich müssen wir gegenüber denjenigen, die von unseren Projekten persönlich betroffen sind, erreichbarer sein.
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