Manfred Kaul
Meine Erfahrungen als Wikipedianer
Bearbeiten- Bin erst seit ca. 8. August 2007 Wikipedianer und versuche hier meine Erfahrungen in der kurzen Zeit so sachlich und neutral wie möglich aufzuschreiben, ohne irgendjemandem zu grollen. Ich vergebe und vergesse, siehe Wikipedia:Wikiquette. Mir geht es nur um Verständnis: Ich will verstehen, warum die deutsche Wikipedia-Welt so ist wie sie ist, nicht mehr und nicht weniger. (Gibt es eigentlich schon Studien von Soziologen?) Und mich würde interessieren, ob andere Wikipedianer ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
- Mein erster Artikel hieß Mikrolernen, den ich neu angelegt habe. Eines der führenden Institute auf diesem Gebiet des Mikrolernen ist österreichisch. Muttersprache Deutsch. Im englischen und französischen Wikipedia gab es bereits Einträge zum Mikrolernen, im deutschen nicht. Wieso? Kann das jemand erklären?
- Mikrolernen ist ein seit 2004 in der Wissenschaft publizierter Begriff und seither werden zu diesen Thema jährlich wissenschaftliche Konferenzen abgehalten. Aber im deutschen Wikipedia fehlte ein entsprechender Eintrag. Also habe ich einen eingefügt. Da fehlten zwar noch viele Details, aber irgendwie muss man ja anfangen.
- Anstatt mir bei dem Ausbau des Artikels zu helfen, wurde der Artikel sofort auf die Liste der Löschkandidaten gesetzt. Wo blieb der Piranha-Effekt?
- Durch den XP-Artikel war ich auf Flow gestossen. Was mir im Flow-Artikel fehlte, war der Rückverweis auf XP. Also habe ich ihn eingefügt.
- Sofort kam die Kritik: "Was hat denn ein Test/Entwicklungs-Verfahren aus der Software-Entwicklung damit zu tun, dass man dadurch schneller oder besser in den Hackmode/Flow gelangt? Ich glaube, hier hat jemand, der selbst kein Programmierer ist bzw. die Erfahrung noch nie gemacht hat, etwas falsch interpretiert. Werde die entsprechende Äußerung u.U. löschen, Kommentare erwünscht."
- Querverweise halte ich für sehr wichtig, damit man Zusammenhänge begreift (Stichwort Vernetztes Denken).
- Der geschichtliche Hergang war folgender:
- Eine der ersten Studienobjekte des Flow-Forschers Mihaly Csikszentmihalyi waren die Extrem-Sportarten.
- Der Smalltalk-Programmierer Kent Beck benannte sein eigenes Vorgehen, das er schon länger praktiziert, aber nie darüber publiziert hatte, "Extreme Programming" (XP), um den Zusammenhang mit den Extrem-Sportarten nahe zu legen.
- Was haben XP und Extrem-Sportarten gemeinsam? Flow. Das ist es, worauf Kent Beck mit diesem Namen hinweisen wollte. Also geht der Zusammenhang schon aus den Überschriften, den Titeln, hervor.
- Heute gibt es XP-Praktiker in den USA, die Extrem-Sportarten wie Wildwasser-Kajak und XP im Wechsel praktizieren und darüber auch noch Bücher schreiben.
- Der Kritiker meines Rückverweises hat dann auf der Diskussionsseite zu erkennen gegeben, dass er Flow aus seiner Programmierertätigkeit sehr wohl kennt. Aha! Genau das ist der Punkt: Da gibt es Leute, die das alles kennen, aber nicht darüber sprechen, auch nicht wissen, dass es dafür Begriffe gibt. Er schreibt: "ich habe das Erlebnis bereits seit Jahren, und erst Anfang dieses Jahres erfahren, dass es dafür Termini gibt". OK, so geht es wahrscheinlich vielen Leuten. Da gibt es Unbewusstheit, fehlende Worte, fehlende Zusammenhänge und daher Erkenntnis-Blockaden. Zusammenhänge werden nicht gesehen, weil die entsprechenden Begriffe oder Querbezüge nicht bekannt sind. Aber was kann dann besser helfen, als Querverweise in die Wiki-Seiten einzubauen?
- Weiterhin war die Kritik: "Trotzdem kann ich nicht direkt erkennen, dass ein Software-Entwicklungs-Verfahren den Flow begünstigt." Auch hier scheint die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung von Bedeutung zu sein: Unter Software-Entwicklungs-Verfahren hatte man im Software-Engineering zunächst einmal formale Verfahren wie Wasserfall oder V-Modell verstanden. Erst später kamen andere Aspekte hinzu. Mit der agilen Bewegung (Agile Softwareentwicklung) gab es dann Leute, denen Menschen wichtiger waren als Prozesse, die das was in den Menschen vorgeht für wichtiger hielten als das was auf dem Papier steht. Alistair Cockburn geht sogar so weit, den Titel Software-Engineering abzustreiten: Hier geht es nicht um Ingenieurwesen, hier geht es um Flow. Und auf der Basis dieser These kann er sehr viele interessante Dinge erzählen. Ein Besuch seiner Vorträge lohnt sich! Eine ähnliche Meinung, aber mit anderen Worten kann man den Vorträgen von Alan Kay und Kent Beck entnehmen.
- Die Tür wird mit dem Raum verwechselt, in den sie führt. Auch die agilen Entwickler stehen unter einem ungeheuren Objektivierungsdruck: Alle subjektiven Erfahrungen stehen unter dem hohen Druck der Objektivierung: Menschen wollen Techniken und Methoden an die Hand bekommen, die sie mit Garantie zum Erfolg führen. Solche Garantien gibt es nicht. Objektivierbar sind nur die Türen, nicht der Raum selbst. Aufgrund des Tractatus-Syndroms ("Nur sagen was sich sagen lässt. Über alles andere muss man schweigen.") wird daher mehr über die Türen gesprochen als über den Raum selbst. Das ursprünglich Wichtige kann dabei verloren gehen. Wenn man XP nur als eine von vielen Software-Engineering-Methoden ansieht, ist eine wesentliche Information verloren gegangen.
- Interessant ist das Reaktionsmuster "Erst mal am neuen Artikel, am neuen Querbezug zweifeln als an sich selber."
- Interessant ist auch, welchen Stellenwert Ignoranz einnimmt. O-Ton Diskussion:Flow (Psychologie):
- "Von Flow habe ich noch nie etwas gehört!"
- "Ich halte diese Seite eher als Werbung für das genannte Buch."
- Auf der Seite Diskussion:Dopamin hatte ich gelesen: "... was mir hier eindeutig zu kurz kommt, ist eine allgemeinverständliche Beschreibung dessen, wofür der Botenstoff in erster Linie zuständig ist. ... Ich verstehe auch kein Wort und wüsste gern, was das alles für Normalsterbliche bedeutet. ... Wozu ist Dopamin überhaupt gut?".
- Also hatte ich die Sätze eingefügt: "Im Volksmund gilt es als Glückshormon, das z. B. bei intensivem Flow-Erlebnis ausgeschüttet wird. Dann spricht man auch von einer Dopamin-Dusche.". Diesen Begriff hatte ich von Prof. Pfeiffer eines Forschungsinstitut in Niedersachsen, der wörtlich gesagt hatte: "In der Sprache der Neurobiologen heißt es, dass Computerspiele Dopamin-Duschen auslösen - also ein Glücksgefühl hinter dem anderen, ein Erfolgserlebnis nach dem anderen. ... Dann ist das so spannend, ... dass das alles (gemeint war hier Schule, Lernen, hart trainieren, ..., Anm. d. A.) nicht mehr interessant wird."
- Der zweite Satz meines Beitrags wurde innerhalb eines Tages ohne Diskussion gelöscht mit dem Vermerk "Schwachsinn". Im zweiten Satz ging es um den Begriff "Dopamin-Dusche", den ich aus Fernsehen und Zeitungsartikel hatte. Nun interessierte mich, was die Beweggründe für das Löschen waren oder ob das so üblich ist, fremde Beiträge mit dem Vermerk "Schwachsinn" ohne Diskussion zu löschen. Übrigens liefert die Google-Suche 67 Treffer. Daher habe ich einen entsprechenden Eintrag auf der Diskussionsseite zu Dopamin gemacht.
Zum Gebrauch von Wikipedia und dessen Konsequenzen
Bearbeiten"Schaue nicht auf die Bedeutung. Schaue auf den Gebrauch." -- Ludwig Wittgenstein.
Die Bedeutung von Wikipedia ist die eines Lexikons. Als Lexikon soll es umfassend, zuverlässig und neutral sein. Das sind ambitionierte Ziele, die Wikipedia niemals zu 100% erreichen kann:
- Wikipedia wird niemals vollständig sein. Klar.
- Wikipedia wird niemals zuverlässig sein, in dem Sinne, dass man eine Seite aufschlägt und sich blind auf deren Inhalt verlassen könnte. Vandalismus (manche nennen es auch dramatisierend Cyber-Terrorismus) ist immer und überall.
- Wikipedia wird niemals absolut neutral sein, sondern immer auch Meinungen widerspiegeln: die Meinung der Autoren, die sich durchsetzen konnten, die Meinung der Mehrheit, die Meinung des gerade aktuellen Zeitgeistes, das was gerade als gültig und wahr geglaubt wird.
Diese Ziele sind unerreichbar und das sollte allen klar sein. Aber das braucht man auch gar nicht zu beweinen. Wikipedia hat seine Stärken. Nur liegen die Stärken woanders. Die Stärken liegen nicht in den Qualitätsansprüchen eines statischen Lexikons, das vorgibt, die neutrale Wahrheit zu vertreten, sondern in der Dynamik von Wikipedia. Damit sind wir beim Thema Gebrauch:
Der Gebrauch von Wikipedia ist heute vielfältig:
- Wikipedia hat heute eine wichtige gesellschaftliche Funktion bekommen. Ganze Generationen von Schülern und Studenten erarbeiten mit Wikipedia ihre Hausaufgaben und Seminararbeiten. Sie werden von Wikipedia gewissermaßen informiert, beeinflusst und vielleicht sogar erzogen. Daher ist es nicht unwichtig, was in Wikipedia steht. Und es ist nicht unwichtig, zu verstehen, wer die Autoren sind. (Einem Gerücht zufolge soll ja der Vatikan kräftig mitmischen. Das ist aber nur ein Gerücht, so Mathias Schindler in seinem Vortrag am 19.06.2008.)
- Wikipedia ist eine zentrale Anlaufstelle für jeden Informationsbedarf (zusammen mit Google). In unserer Aufmerksamkeitskultur kommt Wikipedia daher die Funktion einer zentralen Schaltstelle zu. Wer seinen Glauben, sein Produkt, seine Sicht der Dinge in Wikipedia geschickt platzieren kann, gewinnt Aufmerksamkeit, Beachtung, Nachahmer und Kunden.
- Qualitätssicherung in der Wissenschaft funktionierte schon immer mit Peer-Reviews: Die eigene Argumentation musste dem kritischen Blick der Kollegen aus der wissenschaftlichen Community standhalten. Ähnliche Merkmale findet man auch bei den Autorenaktivitäten in Wikipedia. Entsteht hier ein neuer Gebrauch von Wissenschaft, Wissenschaft von unten, so etwas wie Science 2.0?
- Wikipedia ist durch die zunehmende Qualität der Artikel auch zu einer wichtigen Quelle zur Unterrichtsvorbereitung geworden. Als Dozent kann man sich einem Thema dank Wikipedia auf vielfältige Weise nähern. Daraus ergeben sich vielfältige Darstellungen, vielfältige Perspektiven und Erkundungspfade. Dabei den Studierenden den Gebrauch von Wikipedia wegen Unwissenschaftlichkeit zu verbieten, während man als Dozent selber regen Gebrauch davon macht, grenzt an Doppel-Moral.
- Wikipedia ist eine wunderbare Grundlage für neue Lernmethoden, insbesondere selbstgesteuertes Lernen. Der Lernende (egal ob Schüler, Lehrer, Student oder Dozent) kann seiner eigenen Neu-Gier folgen, statt einer Fremdsteuerung folgen zu müssen.
- Wikipedia ist eine Quelle für Plagiate.
- Die eigentliche Lebendigkeit erhält Wikipedia nicht durch die Lexikonartikel, sondern die Diskussionsseite. Hier kann man wahre Perlen entdecken und Schlüssel-Sätze zum Verständnis eines Themas finden. Erst wenn man sieht, wie eine Gruppe Interessierter um die Richtigkeit der Darstellung eines Wikipedia-Artikels gekämpft hat, erschließt sich der eine oder andere Aspekt erst richtig.
- Wikipedia ist eine soziale Plattform.
- Wikipedia ist eine Spiel-Plattform für Punkte sammeln.
- Wikipedia ist eine Spiel-Plattform für Wortschöpfungen.
- Wikipedia ist Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Forschung (Linguistik, Soziologie, Psychologie, Informatik, Wirtschaft, ...). Die 50 GB Wikipedia-Corpus, die sich jeder herunterladen kann, sind ein riesiger Fundus für wissenschaftliche Untersuchungen.
- Durch Wikipedia werden Zusammenhänge einem großen Publikum ins Bewusstsein gebracht, das diese Zusammenhänge sonst nie gesehen hätte.
- Wikipedia ist das neue, gelebte, effektiv gebrauchte, de facto - Rückgrat der Deutschen Sprache und Kultur. (Ex-Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Jacques Chirac hatten 250 bis 400 Millionen-schwere EU-Projekte ins Leben rufen wollen, um aus kulturellen und politischen Gründen ein Europäisches Gegengewicht zu den amerikanischen Internet-Giganten zu schaffen, siehe EU-Projekt Quaero. Diese Versuche sind kläglich gescheitert. Die Millionen hätte eigentlich Wikipedia verdient.)
- Wikipedia nähert sich immer mehr einer Plattform für das Wittgensteinsche kooperative Sprachspiel (s.u.).
D.h. aus dem, was ursprünglich mal als Lexikon begonnen hatte, ist nun etwas ganz Neues entstanden. Das Neue hat soziale, politische, kulturelle und geistige Dimensionen. In einem Vortrag von Mathias Schindler habe ich am 19.06.2008 gehört, dass viele Wikipedianer sich als neue Erbauer von Pyramiden empfinden, diesmal nicht in einer ägyptischen Wüste, sondern für jedermann jederzeit erreichbar und benutzbar. Das ist ein sehr schönes Bild. Nur besteht häufig das Missverständnis darin, was denn nun die Pyramide sei: (a) das Lexikon, oder (b) die Plattform und deren Gebrauch.
Wittgensteins Tractatus-Syndrom
BearbeitenIn seiner ersten Philosophie Tractatus Logico-Philosophicus hatte Ludwig Wittgenstein noch die Philosophie vertreten: "Nur sagen was sich sagen lässt. Über alles andere muss man schweigen!", d.h. Sprache als Ausdruck des IST-Zustandes ohne jedes Potenzial zu Weiterentwicklung, Evolution. "Wittgensteins Hauptanliegen ist es, die Philosophie von Unsinn und Verwirrung zu bereinigen." heißt es im Tractatus-Artikel in Wikipedia. Als Wittgenstein seinen Tractatus geschrieben hatte, glaubte er, alles gesagt zu haben, dass es nichts weiter zu sagen gäbe. Daher war es nur konsequent, dass er sich dann für Jahrzehnte ganz zurückzog. Das war das Tractatus-Syndrom im Leben des Ludwig Wittgensteins.
Analog gibt es das Tractatus-Syndrom im Leben vieler Menscher, vieler Communities und Nationen. Alles, was nicht ins alte Denkmodell hineinpasst, wird abgelehnt. Das ist das durchaus ehrenwerte Hauptanliegen, "unser Weltbild" von Unsinn und Verwirrung zu bereinigen (vgl. Hauptanliegen Wittgensteins). Neue Querbezüge werden mit dem Verweis "Schwachsinn" aus dem gleichen Grund ohne Diskussion gelöscht. Das hat stellenweise schon einen verbissenen Charakter, wie über Neuanträge, Ergänzungen und Zusammenhänge aufdeckende Querverweise diskutiert wird. Das alte Weltbild wird mit Klauen und Zähnen verteidigt. Nur ja keinen Riss im eigenen Weltbild dulden. Eher wird am Neueintrag gezweifelt als an sich selber. Zusammenhänge, die man selber im eigenen Leben noch nicht gesehen hat, werden pauschal abgestritten.
Wittgensteins Sprachphilosophie
BearbeitenSpäter wurde Wittgenstein mit seiner zweiten Philosophie klar, dass das alles gar nicht stimmt, was er da selber felsenfest behauptet hatte. Der Geist, die Noosphäre, entwickelt sich ständig weiter und Sprache ist ein Ausdruck davon. So werden ständig neue Worte und Begriffe erfunden, mit denen sich etwas zum Ausdruck bringen lässt, was vorher nicht kommunizierbar war. Neue Zusammenhänge werden aufgedeckt, die nie gesehen wurden oder nicht sein durften. Da ist ein ständiges Sprachspiel im Gange, was den sich entwickelnden Zeitgeist spiegelt. Das ist dann als das Wittgensteinsche Sprachspiel in die Philosophie-Geschichte eingegangen.
Auf der anderen Seite steht das alte Weltbild. Dessen Probleme hielt Wittgenstein für "Geistesstörungen", die in der Regel dadurch entstünden, weil man sich in einen unzuträglichen Sprachgebrauch verrannt habe. „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen“ heißt es in Philosophische Untersuchungen, dem Hauptwerk seiner Spätphilosophie.
Die neu geschaffenen Worte mögen in der alten Sprache und im alten Weltbild wie Schwachsinn klingen, weil sie dort nicht hinein passen. Das ist eine logische Erklärung für die Ablehnung als allgemeinem Reaktionsmuster, aber keine Entschuldigung für die Verbissenheit, die sich besonders im deutschen Sprachraum zeigt. Im englischen Sprachraum wird mit Wortschöpfungen viel kreativer und liberaler umgegangen. Auch die Qualitätsansprüche des englischen Wikipedia sind viel gemäßigter und realistischer. Hier muss sich das deutsche Wikipedia fragen, ob es nicht immer noch falschen Idealen hinterher läuft.