Es ist, was mir durch den Sinn geht, wenn ich sehe, was manche in der WP manch anderen antun.
Weil narzisstische Kränkungen in der WP für einige Kolleginnen und Kollegen das Mittel der Wahl in Konflikten zu sein scheinen, diese aber schwer zu ertragen sind und zuweilen gar das Klima vergiften, wäre mir recht, wenn sie wenigstens wüßten, was sie tun – eingedenk der Tatsache, dass die Menschen (und damit auch wir) verschieden sind. Die einschlägigen Artikel und erst recht zahllose YouTube-Videos zentrieren für den Narzissmus bedauerlicherweise zu sehr auf Krankhaftes. Das ist nicht angemessen. Gesund und krank unterscheiden sich in der Psychopathologie nicht durch Qualitäten, sondern durch Quantitäten! Wer mag, könnte meine Bemerkungen zum Anlass nehmen, in Konflikten künftig auf narzisstische Kränkungen zu verzichten. Dazu möchte ich mit meinem Text beitragen.
Bemerkungen über den Narzissmus
Die narzisstische Störung hilft uns, etwas vom gesunden Narzissmus zu verstehen und umgekehrt. Der Begriff, der inzwischen manchen Bedeutungswandel durchgemacht hat, geht auf die Sage von Narziss zurück, der sein Spiegelbild im Wasser entdeckte und sich darein verliebte. Ich beginne mit dem gesunden Narzissmus.
Wir alle müssen uns ein Bild von uns machen, weil wir sonst nicht wissen, wer wir sind. Das Selbstbild stiftet Identität. Ein Bild ist aber nicht dasselbe, wie die Wirklichkeit und wenn wir uns mit unserem Selbstbild nicht in zu großer Entfernung von der Wirklichkeit aufhalten wollen, müssen wir es ständig mit der Wirklichkeit vergleichen. Weicht es ab, so werden wir versuchen Bild und Wirklichkeit in Einklang miteinander zu bringen. Manchmal werden wir dafür die Wirklichkeit ändern – z.B. ändern wir unser Verhalten oder die Haarfarbe, wenn es uns nicht gefällt –, manchmal werden wir das Bild ändern – z.B. wenn die Wirklichkeit nicht zu ändern ist. Manchmal ertragen wir die Abweichung und ändern nichts. All das geschieht z.T. bewusst, teils vorbewusst, teils unbewusst.
Dieser Vorgang, Wirklichkeit und Bild einander anzunähern ist erforderlich, damit wir nicht ständig an unserer Identität zweifeln müssen, wenn wir mit der Realität konfrontiert werden. Da das Leben aber zahlreiche Gelegenheiten bereit hält, feststellen zu müssen, dass das Bild, dass wir uns von uns gemacht haben, nicht (mehr) mit der Wirklichkeit übereinstimmt – allein der Alterungsprozess gibt dazu reichlich Anlass – ist die Identität ein zerbrechliches Gebilde. Sie zu stabilisieren, bedarf es einiger und ständiger, lebenslanger Anstrengung. Das ist deshalb so schwer, weil sich die eigene Identität einerseits ständig verändern muss – mit 50 sollten wir nicht dieselbe Identität haben wie mit 15 – und sie andererseits etwas Kontinuierliches haben muss, denn sonst wissen wir nicht, wer wir sind. Wir müssen also eine Balance halten zwischen Veränderung und Kontinuität, wenn wir eine stabile und doch jeweils angemessene Identität haben wollen. Das heißt, wir dürfen uns nicht mit dem Bild, das wir uns einmal von uns gemacht haben, identifizieren, so, dass wir es nicht mehr ändern könnten, andererseits aber dürfen wir auch nicht jede kleinste Abweichung von der Realität zum Anlass nehmen, es sofort zu ändern. Um diesen schwierigen Prozess bewältigen zu können, bedarf es einiger Voraussetzungen. Wir müssen uns in gutem Sinne als von der Wirklichkeit getrennt erleben können, um zu wissen, dass Bild und Wirklichkeit nicht dasselbe sind. In gutem Sinne heißt, dass wir diese Trennung zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren können, ohne Angst, unterzugehen oder die Welt zerstören zu müssen. Mit der Welt nicht eins zu sein, will ertragen werden. Ferner brauchen wir einen Spiegel, in dem wir uns erkennen können, um dieses Bild mit dem inneren Bild, das wir von uns haben, vergleichen zu können. Weiterhin müssen wir einiges seelische Interesse sowohl auf uns selbst, als auch auf die Außenwelt richten können, um beides überhaupt wahrzunehmen. Den Vorgang, seelisches Interesse zu richten, nennt die Psychoanalyse libidinöse Besetzung. Libidinös besetzt werden muss sowohl die Außenwelt als auch das Selbst, damit beides entdeckt und erforscht werden kann und nicht fremd bleibt. Das geht nur, wenn in der inneren Wahrnehmung beides nicht dasselbe ist.
Der Narzissmus ist nun jene Kraft, die hilft, das Selbst libidinös zu besetzen, ihm jene Aufmerksamkeit zu widmen, die nötig ist, um der Identität die Kontinuität, aber auch die Flexibilität zu verleihen, die einen Menschen im Einklang mit der Welt hält, obwohl er doch weiß, dass er nicht eins mit ihr ist.
Ein gesundes Selbstbild ist das Ergebnis eines Prozesses, der Selbstwahrnehmung („so bin ich“), Vorbilder („so möchte ich sein“), Ideale („so sollte ich sein“) und Fremdbilder („so bist du“) zueinander in ein Verhältnis setzt und integriert. Das Selbstbild ist wie ein Band, das uns mit den anderen verbindet, wenn diese Integration gelungen ist. Ein gesundes Selbstbild ist begleitet von Gefühlen, die wir Selbstgefühle nennen und dazu gehören z.B. Selbstsicherheit (das Gefühl, sich seiner Selbst sicher sein zu können), Selbstvertrauen (das Gefühl, sich auf sich verlassen zu können), Selbstachtung (die Fähigkeit, sich selbst mit Achtung begegnen zu können) und das Selbstwertgefühl, mit dem wir uns wertschätzen können.
Im Zentrum narzisstischer Phänomene steht also eine Dynamik, die die Selbstgefühle und die eigene Identität zum Gegenstand hat.
Störungen der Identität oder narzisstischer Krisen hält das Leben zahlreich bereit. Sie können durch alles ausgelöst werden, was das Selbstbild in Frage stellt. Sie sind typisch (und ganz normal) für Schwellensituationen, wie z.B. die Einschulung, die Pubertät, das Verlassen des Elternhauses, den Eintritt ins Berufsleben, die Gründung einer Familie, Trennungen und später auch die Wahrnehmung des Alterungsprozesses. Narzisstische Krisen können aber auch durch sog. narzisstische Kränkungen ausgelöst werden und das sind Angriffe auf das Selbstbild oder die Selbstgefühle. Die Formel „was ich Dir schon immer mal sagen wollte...“ leitet in der Regel eine narzisstische Kränkung ein. Aber auch positive Erfahrungen können mindestens diskrete narzisstische Krisen auslösen, wenn z.B. etwas gelungen ist, was man sich gar nicht zugetraut hätte.
Ein Mensch mit einem gesunden Narzissmus kann narzisstische Krisen, die immer eine Erschütterung darstellen, durchaus regulieren und damit fertig werden. Das bedeutet, sich seiner Selbst und seines Selbstwertes wieder gewiss werden zu können, Selbstachtung und Selbstvertrauen wiederzugewinnen und damit das narzisstische Gleichgewicht wieder herzustellen. Dies vollzieht sich in mehreren Schritten: nach der erlittenen Kränkung setzt eine Realitätsprüfung ein (trifft der Vorwurf zu?), dann wird der Stellenwert geprüft (ist es wirklich so schlimm?), ggf. werden Korrekturmöglichkeiten erwogen und schließlich der Vorwurf angenommen oder zurückgewiesen. Eine narzisstische Krise wird also dadurch reguliert, dass entweder das Selbstbild verteidigt oder aber korrigiert wird. Soweit zum gesunden Narzissmus und narzisstischen Krisen die bewältigt werden können.
Wenn sie nicht mehr ohne Hilfe von außen bewältigt werden können, entsteht das, was man narzisstische Bedürftigkeit nennt. Sie kann von außen durch narzisstische Zufuhr reguliert werden und die erhalten wir alle durch z.B. Aufmerksamkeit, Bestätigung, Lob, Zuspruch und Bewunderung. Das tut jedem von uns gut, aber wir unterscheiden uns in dem Maß, in dem wir darauf angewiesen sind. Als Faustregel gilt: je milder die narzisstische Krise ist oder je stabiler die eigene Identität, um so weniger ist ein Mensch darauf angewiesen und um so eher kann er dafür sorgen, dass er erhält, was er braucht. Je schwerer die narzisstische Krise oder je schwerer eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist, um so mehr ist ein Mensch auf narzisstische Zufuhr angewiesen und um so weniger kann er selbst dafür sorgen.
Es gibt zahlreiche Eigenschaften, die geeignet sind, narzisstische Zufuhr zu bewirken. Dazu gehören in unserem Kulturkreis Schönheit, Kraft und Mut, Reichtum, Macht und Einfluss, Klugheit, Begabungen und Talente, Intelligenz usw. usf. All das weckt Aufmerksamkeit und Bewunderung. Weil es aber dieselben Eigenschaften sind, die auch Neid hervorrufen können, ist der Bruder des Narzissmus der Neid.
Über die erwähnten narzisstischen Krisen hinaus gibt es so schwerwiegende Angriffe auf die eigene Identität, dass sie auch von Gesunden nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Schwerste Misshandlung und andere Traumata zählen dazu. Die Folter – als ein Beispiel – hat gar erklärtermaßen zum Ziel, die Identität des Gefolterten zu zerstören. Das ist, was der Volksmund Gehirnwäsche nennt. Wenn man erleben muss, wie die eigene Identität zerstört wird, kommt man nicht umhin, es wie die Zerstörung seiner Selbst zu erleben, auch wenn man physisch am Leben bleibt. Um der Angst vor dieser Zerstörung, der Angst vor dem Untergang Herr zu werden, tauchen mörderische Wut, tiefer Hass und intensive Rachebedürfnisse auf. Allmachtsphantasien und Vorstellungen von der eigenen Grandiosität sollen retten, was noch zu retten ist. Wenn das nicht gelingt und die erwähnten Selbstwertgefühle dadurch nicht mehr stabilisiert werden können, machen sie schweren Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, Gefühlen von Leere und Sinnlosigkeit, Zweifeln an der eigenen Existenzberechtigung und Gefühlen tiefer Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit Platz. Dieser Zustand kann nicht mehr allein reguliert werden und manchmal wird er chronisch und kann gar nicht mehr reguliert werden. Es ist ein Zustand schwerer Pathologie.
Ehemals Gesunde und Menschen mit schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörung unterscheiden sich nicht in diesem Endzustand einer zerstörten Identität. Es gibt aber sehr große Unterschiede in Qualität und Quantität des Anlasses, durch den dieser Zustand hervorgerufen wird. Bei Gesunden bedarf es dazu der erwähnten, schweren Traumata. Bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ist das anders. Hier gilt als Faustregel, dass mit zunehmender Schwere der Störung die Anlässe, die einen solchen Zustand heraufbeschwören können, in Intensität und Dauer immer geringer werden. Ist die Störung schwer genug, kann bereits kleinste Kritik jenen beschriebenen Prozess auslösen, der beim Gesunden erst durch schwere Traumata in Gang gesetzt wird.
Es wird einleuchten, dass schwere Traumata die Identität eines Menschen zerstören können. Nicht immer aber findet sich ein solches Trauma, wenn uns Menschen begegnen, die so verwundbar, verletzlich und kränkbar sind, so angewiesen auf Bewunderung, dass wir den Eindruck haben müssen, sie schon mit kleinster Kritik zu zerstören.
Narziss hat eben keine durch Kontinuität und Flexibilität gekennzeichnete Identität. Stattdessen hat er sich unbeirrbar in sein Spiegelbild verliebt und wird nicht satt, es immer wieder zu betrachten. Es ist so schön und ohne Makel, dass er nichts daran ändern will. Er identifiziert sich mit diesem Bild, er ist das Bild, er braucht nichts außer diesem Bild und jeder aufkommende Zweifel daran zwingt ihn, wieder in das spiegelnde Wasser zu schauen, um sich zu versichern, dass es zwischen ihm und dem Bild keinen Unterschied gibt. Dieses Bild entspricht aber einem Ideal und das duldet keinen Vergleich und schon gar keine korrigierende Veränderung.
Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben die Trennung zwischen Innen und Außen nicht bewältigen können. Deshalb ziehen sie sich auf sich selbst zurück. Dagegen spricht auch nicht, dass sie den Kontakt zu anderen und der Welt durchaus suchen, denn in ihnen suchen sie ausschließlich sich selbst. Die anderen sind der Spiegel und nur in dieser Funktion willkommen.
Diese Menschen haben als Kind gleichsam ein Liebesverhältnis mit der Welt begonnen und das von der Realität noch ungetrübte Hochgefühl der Illusion genossen, die Welt zu beherrschen. Die Entwicklung bringt es aber mit sich, dass das Kind eines Tages merkt, dass die Welt nicht ihm gehört, sich seiner Beherrschung entzieht, ein eigenständiges Äußeres ist und neben der Bedürfnisbefriedigung auch Frustration bereit hält. Diese Entdeckung stellt eine große Ent–Täuschung dar, die ohnmächtige Wut heraufbeschwört.
Manche Kinder können diese Enttäuschung überwinden, verzichten auf die Allmacht und lernen zu ertragen, dass weder die Mutter noch sie selbst so grandios sind, die Allmacht zu erhalten. Trauer über den Verlust des Paradieses ist die Folge und mit der Trauer ein weiterer, wichtiger Entwicklungsschritt getan. Innen und Außen können sich nun trennen und das ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind Frustration ertragen lernt und ein realistisches Bild von sich entwickeln kann.
Manche Kinder können diese Enttäuschung aber nicht überwinden und besonders dann nicht, wenn sie dabei nicht gut begleitet werden. Eine gute Begleitung ist gewährleistet, wenn die Mutter diesen Trennungsschritt des Babys ertragen kann, seine Enttäuschung, seine Wut, den Hass und seine ohnmächtige Hilflosigkeit ertragen und in sich aufnehmen kann, damit das Baby erleben kann, wie die Mutter es aushält, nicht untergeht und es gut übersteht. Eine gute Begleitung ist gewährleistet, wenn die Mutter in der Zeit dieser ent-täuschenden Entdeckungen das Kind beruhigen kann und ihm ein guter Spiegel ist. Es muss, wie der Volksmund sagen würde, den „Glanz im Auge der Mutter“ gesehen haben.
Anderenfalls zieht sich das Kind auf sich selbst zurück. Einige tun das dadurch, dass sie den Kontakt mit der Außenwelt ganz abbrechen – sie gehen den autistischen Weg –, andere vermeiden den Kontakt und gehen den schizoiden Weg und wieder andere wollen das erlebte Hochgefühl erhalten und gehen den narzisstischen Weg.
Dabei wird die Realität nicht ausgeschlossen oder vermieden, sondern mit illusionären Allmachts- und Größenphantasien umgedeutet. Diese Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach grenzenloser Harmonie mit anderen Menschen und der Welt und die stillen sie dadurch, dass sie die Realität nur soweit wahrzunehmen bereit sind, als sie dieser Sehnsucht dient. Alles andere bedroht ihr Gefühl von Wohlbehagen und Sicherheit. Sobald sich die Realität unübersehbar mit ihren versagenden, frustrierenden Seiten ihnen entgegenstellt, wird, wie damals in Kindertagen, maßlose Wut und Hass mobilisiert. Die soll helfen, die Welt so zu manipulieren, dass sie den harmonischen Zustand wieder herstellen möge.
Auf diese Weise hat sich entwickelt, was man ein „falsches Selbst“ nennt, weil es fernab von einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen liegt. Und weil der Narzissmus die grenzenlose Harmonie mit der Welt anstrebt, mit ihr verschmelzen will, können auch andere Menschen nicht realistisch eingeschätzt werden. Stattdessen werden auch sie entweder mit Vollkommenheit und Omnipotenz ausgestattet oder durch völlige Entwertung quasi zerstört.
In der Vorgeschichte von Menschen mit narzisstischen Störungen findet sich oft eine Eigenschaft, die geeignet war, Bewunderung (aber auch Neid) zu erwecken. Manchmal sind es besonders hübsche Kinder oder sie haben eine Schlüsselposition (z.B. Einzelkind, einziger Sohn u.a.) oder bringen besondere Begabungen mit. Das Kind merkt schnell, dass es etwas Besonderes ist, wenn die Besonderheit gefördert wird und das tun Eltern gern, wenn sie selbst narzisstisch bedürftig sind und sich mit ihrem Kind schmücken wollen. Dann merken sie nicht, wie das, was sie an ihrem Kind bewundern und fördern, bei anderen Neid und Verachtung heraufbeschwört. Sie nutzen ihre Kinder für eigene Interessen aus und unter solchen Umständen gelingt der sehr schwierige Prozess der Realitätsanpassung nicht. Das Gegenteil, zu starke Frustration und Entwertung, bewirkt dasselbe. In nicht wenigen Herkunftsfamilien finden sich zwar durchaus geordnete Verhältnisse, die Kinder werden funktional angemessen versorgt, aber sie werden zu wenig gespiegelt, finden zu wenig Beachtung und es herrscht allgemein ein Klima von Kälte, Härte, Indifferenz und mürrischer Aggression, in der Kränkung und Entwertung des jeweils anderen an der Tagesordnung sind. Auch unter solchen Bedingungen kann ein Kind kein sicheres Selbstbild und kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Die verheerendste Wirkung entfaltet sich, wenn ein willkürlicher Wechsel zwischen diesen beiden Klimata stattfindet.
Ihre Lebensgestaltung präsentieren Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen gern als bestens geregelt, klug durchdacht und ohne Makel. Tatsächlich sind sie oft beruflich durchaus gut integriert, weisen eine recht gute soziale Anpassung und keine schweren Störungen in den wichtigsten Ich-Funktionen auf. Sie wirken gut eingeordnet und können produktiv arbeiten, aber es fehlen Tiefe, Reife und Beständigkeit. Die relativ gute Anpassung gelingt nur, wenn entwertete Selbstanteile projektiv bei anderen untergebracht werden können und Defizite hinter einem grandiosen Selbstbild verborgen bleiben. Auch ihre scheinbar hohe Angsttoleranz können sie nur um den Preis gesteigerter Größenphantasien aufrechterhalten. Weil die Selbstwertregulation von außen erfolgen muss, neigen sie dazu, sich mit Menschen zu umgeben, die ihnen mit Bewunderung begegnen und sie schmücken sich gern mit schönen und wichtigen Menschen. Nicht selten, und gerade, wenn sie älter werden, lassen sie Schönheitsoperationen ohne Zweifel, ohne Sorge und ohne Klage über sich ergehen und bezahlen auch dafür einen hohen Preis. Unerträgliche reale Gegebenheiten verleugnen sie gerne, deuten sie um oder entwerten sie und gehen ihnen aus dem Weg. Solange all das funktioniert, kann die narzisstische Persönlichkeitsstörung – eben wenn sie bestimmte Schweregrade nicht überschreitet – recht stabil und Ich-synton sein, d.h. sie sind mit sich einverstanden und erkennen kein Problem. Symptome im engeren Sinn sind bei dieser Störung nicht das Bestimmende, sondern eher die beschriebenen Phänomene, mit denen sie versuchen, ihre brüchige Identität zu stabilisieren.
Zu tiefen, zwischenmenschlichen Beziehungen, die von Sympathie, mitfühlender Rücksichtnahme, Beständigkeit, aber auch Ambivalenz geprägt sind, sind diese Menschen nicht fähig. Anderen, die in ihren Augen nicht ideal sind, begegnen sie überheblich und mit Geringschätzung. Sie können einen anderen nicht wirklich lieben, sondern lieben in ihm, was sie selbst sind, waren oder sein möchten. Deshalb haftet ihren Beziehungen oft etwas Berechnendes, Opportunistisches, Ausbeuterisches an. Wenn sie einen idealen Partner gefunden zu haben glauben, klammern sie sehr und wirken scheinbar abhängig. Zu echter Abhängigkeit sind sie aber nicht in der Lage, denn sie können sich in ihrer Angst, sich zu verlieren, nicht hingeben und fürchten, selbst ausgebeutet zu werden. Stattdessen wollen sie mit dem idealen Partner verschmelzen, ganz eins werden und die Illusion aufrechterhalten, dass das immer und ewig so bleiben werde. Wenn sie von einem solchen Partner verlassen werden, geraten sie in eine schwere Krise, denn trauern können sie nicht.
Um Hilfe suchen Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen selten nach, denn dafür müssten sie ihren Stolz aufgeben, auf ihre Allmachtsphantasien verzichten und ihren Neid auf den Helfer überwinden, aber all das können sie schwer. Wenn sie kommen, müssen sie eine Störung erleben und das ist erst der Fall, wenn sie schwer ist. Deshalb sieht man als Helfer, welcher Profession auch immer, in seinem beruflichen Alltag bevorzugt schwere, narzisstische Persönlichkeitsstörungen und die gehören aus verschiedenen Gründen zu den heroischen Indikationen für jegliche Art von Hilfe.
In eine, auch von ihnen selbst erlebte Krise geraten diese Menschen bevorzugt dann, wenn sie in ihren sozialen Beziehungen Verluste erleiden, die sie nicht schnell wieder ersetzen können. Eine solche Krise kann sowohl durch den Verlust eines wichtigen, bewundernden oder bewunderten Menschen ausgelöst werden, wie durch den Verlust des Partners, mit dem sie sich in harmonischer Symbiose wähnten. Aber auch der Verlust eines entwerteten Menschen kann eine solche Krise heraufbeschwören, wenn sie dadurch nicht mehr wissen, wohin mit den entwerteten Selbstanteilen. Verluste sind ein untrügliches Zeichen für eine frustrierende, versagende Wirklichkeit und die können sie nicht ertragen. Für Menschen mit einer, wenn auch durch ein falsches Selbst getragenen, so doch relativ stabilen Identität und Funktionstüchtigkeit treten ernsthafte Probleme oft erst in der Lebensmitte auf, wenn Schönheit, Jugend und Leistungsfähigkeit nachlassen und dadurch die Illusion von der eigenen Grandiosität zusammenbricht. Allein der Alterungsprozess stellt für sie eine schwere, narzisstische Kränkung dar und manche von ihnen werden nicht alt und nehmen sich eher das Leben, als dass sie um Hilfe nachsuchen. Der Selbstmord stellt dann den letzten Versuch dar, die Allmacht zu retten.
Zu den heroischen Indikationen gehören die narzisstischen Persönlichkeitsstörungen deshalb, weil die Prognose oft ungünstig ist, die Patienten oft schwer zu ertragen sind, aber auch, weil sie einerseits zu schnellem Behandlungsabbruch und andererseits zu sehr langer Betreuung neigen, wenn es ihnen gelingt, das Hilfsangebot für narzisstische Zwecke zu missbrauchen. Wenn ihnen das nicht gelingt, ertragen sie einen helfenden Prozess nur schwer und brechen ihn ab.
Die Prognose wird günstiger, wenn die Störung in der Vorgeschichte eher durch ein Zuviel an Frustration hervorgerufen wurde. Gegen exzessive Bewunderung und Verwöhnung kommt man dagegen nicht an. Ein Wechsel zwischen beidem verschlechtert die Prognose sehr. Allerdings ist manchen Menschen auch soviel Frustration zugemutet worden, dass Hilfe der Erfolg versagen bleiben muss, zumal, wenn eine solche Atmosphäre mit Gewalterfahrungen verknüpft war. Dann entwickeln sich nicht selten antisoziale Tendenzen, die sich in z.T. schwerer Kriminalität entladen. Günstiger wird die Prognose, wenn mindestens im Ansatz die Fähigkeit zu Schuldgefühlen, Trauer und Depression vorhanden ist und sich ein Wertesystem außerhalb des Narzisstischen entwickeln konnte.
Diese Patienten sind so schwer zu ertragen, weil sie den Helfer geringschätzig behandeln müssen, alle helfenden Bemühungen entwerten und lächerlich machen müssen und alles dazu tun, die Hilfe scheitern zu lassen. Sie müssen sich so verhalten, um den Verzicht auf ihre Allmachtsphantasien, aber auch das Aufkommen von Neid zu vermeiden. Weil sie so belastend sind, sollte man nicht zu viele dieser Patienten gleichzeitig betreuen. Die narzisstische Bedürftigkeit des Helfers sollte mit darüber entscheiden, wie viele solcher Patienten man sich zumuten will, und die kann erhöht sein, weil der Helfer so strukturiert ist oder sich selbst gerade in einer narzisstischen Krise befindet.
In der Betreuung lassen sich aus der Gegenübertragung – etwas verkürzt gesagt: den eingenen inneren Antworten – Hinweise auf die verborgenen Absichten des Patienten erkennen. Mit Schläfrigkeit reagieren wir z.B., wenn sie monologisieren und sich dabei der unbewussten Phantasie hingeben, mit uns zu verschmelzen. In unserem Impuls zu verstärkter Selbstbehauptung können wir eine Antwort auf den Versuch des Patienten erkennen, uns zu jemandem machen zu wollen, der wir nicht sind. Wie ausgewrungen fühlen wir uns, wenn wir, ohne es zu bemerken, ihrer Verführung erlegen sind, sie zu bewundern. Halten wir Stand, stellt sich mitunter Ärger über ihre Ansprüchlichkeit ein. Fühlen wir uns unhinterfragt wohl, könnte es sein, dass wir uns in ihrer Idealisierung sonnen, manchmal reagieren wir darauf aber auch mit Zurückweisung oder gar Selbstentwertung. Werden wir von ihnen entwertet, fühlen wir uns verletzt und gekränkt und wenn wir das nicht mehr regulieren können, stellen sich Wut und Hass ein. Mit all dem muss man rechnen, aber all das ist schwer auszuhalten. Leichter haben wir es, wenn wir gut für das eigene narzisstische Gleichgewicht sorgen können, aber insbesondere auch dann, wenn wir verstehen, warum sich der Patient so verhalten muss. Damit kann die Grenze zwischen ihm und uns gesichert werden.
Hilfreich für eine Betreuung ist, wenn es dem Helfer gelingt, seine Identität zu verteidigen und konsequent allen Bemühungen des Patienten entgegenzutreten, ihn omnipotent beherrschen, kontrollieren und idealisieren oder entwerten zu wollen. Nur dann hat der Patient die Chance, den Helfer als von sich getrennt zu erleben und dadurch seinen Empfindungen zu begegnen, die durch dieses Trennungserlebnis hervorgerufen werden. Das werden zunächst Wut und Hass sein. Und das will ausgehalten werden, damit ein Zugang zu der so sehr gefürchteten Trauer geöffnet wird. Sich dem Patienten als getrennt entgegenzustellen, wird nur dann einen förderlichen Einfluss haben können, wenn es getragen ist von einer tiefen Wertschätzung, Achtung, Respekt und der Bereitschaft, zu einer tragfähigen Beziehung zu kommen, weil es anderenfalls lediglich als Zurückweisung erlebt würde. Die Kränkbarkeit des Patienten muss berücksichtigt werden und man muss mit gleicher Konsequenz den eigenen Neigungen widerstehen, ihn zu demütigen. Direkte narzisstische Zufuhr zu gewähren, wird ihn zwar schnell und kurzfristig stabilisieren, ihn langfristig aber nicht weiterbringen und überdies das Risiko fördern, dass er die helfende Beziehung für die Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse missbraucht und sich nichts ändert.
Wikipedianer und -dianerinnen begegnen uns weder als Patienten noch als Hilfesuchende, sondern als Kollegen. Die Rollen, in denen Menschen einander begegnen, ändern aber nichts an der Dynamik des zwischenmenschlichen Miteinanders. Und sofern diese Dynamik massgeblich durch Narzisstisches geprägt wäre, hätten wir es schwer miteinander. Wenn es uns aber gelänge, in unseren Diskussionen wenigstens auf narzisstische Kränkungen zu verzichten – also solche, die auf die Selbstgefühle oder die Identität zielen – hätten wir schon viel gewonnen.
-- Andrea014 (Diskussion) 07:29, 1. Feb. 2017 (CET)
Im Prinzip wird in den Bemerkungen über das Pferd im Zirkus von Horst Stern mit anderen Stilmitteln und mit Hilfe anderer theoretischer Grundlagen das Gleiche gesagt. Mein Text bedient sich psychoanalytischer Erwägungen, der von Horst Stern kommentierte Dompteur macht sich lerntheoretische Erkenntnis zunutze. Ein schönes Beispiel, wie verschiedene Theorien einander ergänzen und zum selben Schluß kommen können, ohne dass Eklektizismus auf den Plan gerufen werden muss. Mit Dank an Iwesb für den Link. -- Andrea014 (Diskussion) 06:08, 2. Feb. 2017 (CET)
Wer es wissen will und sich das antun mag, könnte bei Trimborn Interessantes erfahren:
- Winfrid Trimborn: Der Verrat am Selbst. Zur Gewalt narzisstischer Abwehr. In: Psyche. Band 57, Nr. 11, 2003, S. 1033–1056.
Ist aber hardcore. MfG -- Andrea (Diskussion) 11:26, 2. Jun. 2019 (CEST)
Sebastian 23 hat mehr vom Narzissmus verstanden als die meisten Menschen. In Endlich erfolglos! bringt er es auf den Punkt! Danke Sebastian! --Andrea (Diskussion) 09:20, 22. Jul. 2019 (CEST) Schade, nicht mehr im Netz. --Andrea (Diskussion) 09:51, 5. Okt. 2019 (CEST)
Narzissmus für Fortgeschrittene
Bearbeiten- Eva Jaeggi: Wer bin ich? Frag doch die anderen!. Vortrag 2018 bei der Tele-Akademie (44:49). --Andrea (Diskussion) 09:51, 5. Okt. 2019 (CEST)
- Mary Kowalchyk et al.: Narcissism through the lens of performative self-elevation (2021)