Blog von Siesta
Sonntag
BearbeitenDer letzte Tag der Wikimania 2017 beginnt für mich mit einem Meeting zu einem internationalen Projekt, das ich schon lange gerne umsetzen möchte. Noch ist es nicht spruchreif, aber es sieht gut aus, und für mich hat sich der Wikimania-Besuch definitiv gelohnt. Um Kontakte zu knüpfen und Pläne zu spinnen, ist die Konferenz ideal, denn auch wenn wir alle online zusammen arbeiten, sind persönliche Kontakte essentiell.
Am Nachmittag besuche ich eine Session, von der ich mir eigentlich viel versprochen habe, die mich aber dennoch etwas enttäuscht. Es geht um „The Coolest Projects of Wikimedia Chapters - Be Inspired“, eigentlich ja eine gute Idee, aber die Projekte werden im Stakkato kurz vorgestellt, keine Spur von Story telling oder Human touch, über das die PR-Expertinnen in der Session reden, schade. Ich beschließe, mir die Projekte später lieber in Ruhe anzuschauen und gehe erst einmal Kaffee trinken. Auch in meiner zweiten Session an diesem Nachmittag geht es um PR, in einem launigen Vortrag mit dem Titel „A Medieval pope skeleton dancing with Taylor Swift in an Iraqi telecom commercial“ stellt das Social Media Team der Wikimedia Foundation seine Arbeit vor. Da könnte Wikimedia Deutschland, deren Internetauftritt und Social Media-Aktivitäten ich ja eher bescheiden bis peinlich finde, sich aber mal eine Scheibe von abschneiden. Blöd finde ich nur, dass sie in ihrem Vortrag Twitter und Instagram außen vor lassen und sich immer nur auf Facebook beziehen, dabei ist Facebook doch inzwischen auch schon wieder oldschool. Mehr Infos zu Wikimedia und sozialen Medien gibt es übrigens in dieser Gruppe: https://www.facebook.com/groups/wikisocialmediahub/
Und plötzlich ist es schon fünf, und die Wikimania geht zu Ende. Die Closing Ceremony im großen Saal wird wieder einmal großes Kino. Jimmy Wales genießt seinen Auftritt als Showmaster und Wikipedia-Posterboy der Herzen, dankt den 900 Gästen aus ungefähr 70 Ländern überschwänglich und verkündet den "Wikimedian of the year". Der ist aber gar nicht da, konnte bestimmt auch nicht einreisen. Felix Nartey aus Ghana, den wir wenigsten kurz per Skype-Video zu Gesicht bekommen, scheint ein cooler Typ zu sein und ein idealer Botschafter für das, was meiner Auffassung nach auf dieser Wikimania 2017 zu kurz gekommen ist: Mir fehlte es an Diversität und globaler Perspektive, es wurde zu viel über Nordamerika (und etwas über Europa) gesprochen, doch die aufregenden Chancen, die das Wikimedia Movement besonders im globalen Süden nutzen sollte (Herausforderungen wie Bildungs- und Internetzugänge für alle, neue Sprachversionen, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,...), waren in Montreal eher kein Thema. Ein bisschen erschöpfend war auch die permanente Strategie-Selbstbeweihräucherung der Vertreterinnen und Vertreter der Foundation und der Überschuss an Vorträgen zu Wikidata. Nächstes Jahr in Kapstadt wird es sicher ganz anders, allein schon durch die geografische Lage.
Wie immer endet die Wikimania mit einer riesigen Party, die in einer sehr schönen Location, dem stillgelegten Victoria Bahnhof, stattfindet. Doch weil der Sound leider wirklich schlecht ist, tummeln sich die meisten lieber draußen als drinnen und lassen die Wikimania bei Essen und Getränken eher ruhig ausklingen.
Samstag
BearbeitenDie erste Session mit dem Titel „Knowledge, democracy and the Wikipedian Gender Gap“, die ich besuche, handelt vom Gender Gap, ein immerwährendes Thema, leider hat sich bisher wenig daran geändert, dass so wenige Frauen in den Communities mitmachen. Was sind die Gründe dafür? Steve Jankowski fasst zusammen, was man darüber herausgefunden hat, aber für mich ist es nicht neu. Frauen haben nachweislich weniger Freizeit als Männer, da sie neben ihrer Berufstätigkeit deutlich mehr in unbezahlte Arbeit (Care-Arbeit) eingebunden sind als Männer. Außerdem fühlen sie sich wohl von der Wikisyntax abgeschreckt und fürchten den harschen Ton auf den Diskussionsseiten. Außerdem sind sie nicht so davon überzeugt, etwas beitragen zu können, Impostor-Syndrom heißt dieses Phänomen. Nun ja, nichts Neues, jedenfalls für mich nicht.
Am Nachmittag lerne ich von Asaf Bartov, wie man mit Wikistress umgeht, ich glaube, den kennen wir alle. Er empfiehlt, sich gute Netzwerke und Freundschaften aufzubauen und öfter mal eine Pause, oder sogar richtige Ferien zu machen. Und er ruft uns ins Gedächtnis, dass die meisten Leute doch ganz gut sind, die an den Projekten mitarbeiten. Also AGF beibehalten und nicht vergessen, gut auf sich zu achten.
Am späten Nachmittag gehe ich zu einer Keynote, auf die ich mich schon lange vorher gefreut habe: „Experiences from the Middle East: Overcoming Challenges and Serving Communities“. Esra'a Al Shafei, eine mutige junge Frau aus Bahrain (eine schlimme Diktatur) berichtet davon, wie schwer es in der arabischen Welt ist, überhaupt Meinungen zu äußern, aber eben auch davon, welche Chancen das Internet für Oppositionelle bietet. Alle Seiten, die den Diktatoren nicht passen, werden zensiert, Aktivistinnen und Aktivisten sitzen im Gefängnis, einfach nur, weil sie es gewagt haben, Kritik zu äußern oder sich als LGBT zu outen. Esra'a Al Shafei hat seit sie ein Teenager war, diverse Internetseiten gegründet, zum Beispiel für Musikerinnen und Musiker, Schwule und Lesben und für die vielen ausländischen Menschen, die in arabischen Ländern auf Baustellen und in der Hausarbeit quasi versklavt werden und keinerlei Rechte haben. Ich verlinke sie später (genau wie die ganzen Präsentationen und Speaker), wenn ich mehr Zeit habe an dieser Stelle. Obwohl das Thema ernst ist, macht Esra'a viele Witze über Zensur und Diktatur, dabei hat ihr Staat sie schon auf dem Kieker und der sogenannte IS würde sie und ihre Freundinnen und Freunde am liebsten umbringen. Darum darf sie auch nicht fotografiert und gefilmt werden, sonst wäre ihre Sicherheit in Gefahr. Die Wikimania verdeutlicht uns sehr klar, wie privilegiert wir sind, wir können problemlos reisen, leben in (relativer) Sicherheit und können die sein, die wir sind, und auch offen darüber sprechen. Was für uns so selbstverständlich ist, ist für die Menschen im Nahen Osten (bis auf Israel) fast unmöglich. Sie müssen peinlichst genau auf ihre Anonymität achten, VPNs nutzen, sich verstellen und verstecken. Für ihren beeindruckenden Vortrag erhält Esra'a einen riesigen Applaus, sie hat die Wikimania bewegt und gerührt, vielen Dank dafür!
Das traditionelle Wikimania-Massenfoto wird in diesem Jahr leider gar nicht gut (es sei denn, es wird nochmal aufgenommen), denn der einzige Regenschauer dieser Tage erwischt uns genau in diesem Moment und zu viele drücken sich vor dem Fototermin, so dass es etwas armselig aussieht.
Ich lasse den Abend bei einer Pizza mit Earlyspatz und Wuselig ausklingen, Wuselig berichtet von seiner Kindheit an einer amerikanischen Schule in Indien, spannend. Er hat schon länger die Idee, mal dort eine Wikimania zu veranstalten, das wäre bestimmt toll, allerdings liegt die Schule echt weit vom Schuss. Ich bin mal wieder hundemüde und gehe früh ins Bett, allerdings erfahre ich vorher von dem schrecklichen Terrorakt in Charlottesville, den ich wirklich beängstigend finde. Wird denn wirklich alles immer schlimmer? Ich bin froh, gerade auf der Wikimania zu sein, denn hier sind die, die das Gute wollen und mit viel Idealismus und Engagement daran arbeiten, gefühlt sind sie alle meine Freundinnen und Freunde, obwohl ich längst nicht alle kennenlernen kann.
Freitag
BearbeitenDer Freitag beginnt mit einer guten Nachricht: Zum Start der Wikimania verkündet die Chefin der Wikimedia Foundation Katherine Maher, dass alle Leute, die für 2017 ein Stipendium hatten, aber wegen der strengen Einreisebedingungen kein Visum für Kanada bekommen haben, im nächsten Jahr für Kapstadt ein Stipendium bekommen werden. Super, denn das Problem betraf eine Menge Menschen, Afrika und Asien sind kaum repräsentiert auf der Wikimania, aber auch einige Leute aus ärmeren europäischen Ländern wie zum Beispiel Albanien durften nicht einreisen. Hoffentlich klappt es dann in Kapstadt. Die Wikimania 2017 ist sehr nordamerikanisch dominiert, die zweitgrößte Gruppe dürfte die der Deutschsprachigen sein. Nach Grußworten der Stadt Montral, kommen die Freunde von Bassel Khartabil auf die Bühne. Der syrische Aktivist für Freies Wissen und Open Source wurde 2015 hingerichtet, was aber erst vor kurzem bekannt geworden ist.
Nach einem eher nicht so interessanten Panel mit Gabriella Coleman und Jimmy Wales, suche ich mir meine ersten Sessions aus. Als Lehrerin interessiert mich der Bildungsteil, also höre ich mir an, wie Michal Lester von Wikimedia Israel in Kooperation mit Unis und High Schools jungen Menschen beibringt, Wikipedia-Artikel zu schreiben. Ihr Ansatz ist, es denn Leuten so einfach wie möglich zu machen. Sie dürfen ihre Artikel in Textverarbeitungsprogrammen vorschreiben, die Wikifizierung kommt später, und Kategorien und ähnliches können ja auch andere noch einfügen. Die einzige Regel, auf die sie bestehen, ist, dass jeder neue Artikel Quellen haben muss. Die hebräische Community ist klein, es gibt kaum Löschungen und jeder neue Artikel, jede neue Person scheint willkommen zu sein, schön. In Deutschland würden solche Programme ja schon an der grauenhaft schlechten PC-Ausstattung in den Schulen scheitern, von der kritischen Abwehrhaltung mancher Lehrkräfte gegenüber diesem Internet voller Gefahren und Fake News fange ich jetzt gar nicht erst an.
Am Nachmittag geht es um Harassment, also Online- und Offline-Belästigungen. Die Wikimedia Foundation hat in monatelanger Arbeit (18 Monate) mit Communities einen Code of Conduct, also Verhaltensregeln entwickelt. Von oben verordnen kann man so etwas ja nicht. Ziel ist, dass man Verletzungen des Code of Conducts einem fünfköpfigen Team melden kann, dass dann interveniert und gemeinsam überlegt, wie man das unerwünschte Verhalten abstellen kann. Mal sehen, wie so etwas in der deutschsprachigen Community ankommt, da gibt es ja Leute, die so etwas total überflüssig finden, wie ich jedes Jahr auf den Disk-Seiten der WikiCon beobachten kann. Wer so etwas sagt, ist wahrscheinlich noch nie diskriminiert, belästigt oder bedroht worden.
In der Session „How toxic environment affects the community health and which way forward?“ sprechen Léa Lacroix und Benoît Evellin in einem Workshop mit uns über Strategien gegen Harassment. Würde es zum Beispiel helfen, wenn vor dem Speichern von Diskussionsbeiträgen eine Box aufpoppen würde, die sagt "Bist du sicher, dass dein Beitrag keine verletzenden Äußerungen enthält?"? Ich bin skeptisch, denn alle Ideen, die wir im Workshop entwickeln, basieren auf der Annahme, dass alle in den Communities das Gute wollen, und so ist es ja nun mal nicht. Was an diesem Nachmittag außen vor bleibt, sind die sogenannten Mikroaggressionen, also Beiträge, die nicht so wirklich sanktionierungswürdig sind, weil sie noch knapp unter einer bestimmten Grenze bleiben. Meiner Ansicht nach sind die Mikroaggressionen aber das zentrale Problem, denn sie verhindern so oft ein produktives Zusammenarbeiten und sind absolut schädlich. Nun ja, ich habe auch nicht erwartet, die eine Lösung für das Problem zu finden. SDKmac hat übrigens in seinem Blogbeitrag über den Freitag auch über diesen Workshop geschrieben.
Mit einigen Lightning Talks (Mini-Vorträge, die nie länger als fünf Minuten dauern dürfen) klingt der Sessionteil aus. Das Abschlusspanel des Tages im großen Saal zur Wikimedia Strategie bis 2030 langweilt mich sehr. Ja, ja, alle sind excited, das Movement ist großartig, die Menschen sowieso, und die Strategie ist sowas von awesome, weiß ich doch schon. Der amerikanische Enthusiasmus erschöpft mich eher, als dass er mich begeistert.
Nun folgt die „Poster Happy Hour“. Viele Menschen, die einen Vortrag halten wollten, wurden mit ihren Themen abgelehnt, einige dürfen wenigstens ein Poster aushängen und in dieser Stunde stehen sie dort Interessierten Rede und Antwort. Am Abend findet noch die Bassel-Party (eine schräge Idee, um seiner zu gedenken) statt, für die ich aber schon fast zu müde bin. Gute Nacht.
Donnerstag
BearbeitenDie Wikimania hat immer noch nicht offiziell begonnen, aber es gibt diverse Workshops und Seeminare. Ich entscheide mich für einen Hands-on-Workshop über Wikidata, denn damit arbeite ich eigentlich noch gar nicht. Mir hat zwar vor Jahren schon mal jemand gezeigt, wie man dort etwas einträgt. Aber obwohl ich eigentlich von der Sinnhaftigkeit des Projekts überzeugt bin (alles an einem Ort!) habe ich das Thema irgendwie aus dem Blick verloren und alles Technische, was ich nicht regelmäßig anwende, vergesse ich schnell wieder. Referent ist Andrew Lih, er hat schon ein Buch über Wikipedia geschrieben und ist ein selbstbewusster Redner. Und er kennt sich schon gut aus mit Wikidata. Klingt eigentlich gut, ist aber schade, denn er hält einen völlig überfrachteten Vortrag, die Informationen prasseln im Stakkato auf das Publikum ein, und ich kann kaum noch folgen, irgendwann noch nicht einmal mehr zuhören. Zum Selbermachen kommen wir gar nicht, und die Ankündigung, dass der „Workshop“ auch für absolute Wikidata-Beginner ist, stimmt irgendwie nicht so. „Q146“ ist gleich „Katze“ steht hinterher auf meinem Notizblock, aber was ich mit der Info soll, weiß ich nun auch nicht. Schade, die Chance, mich zur Wikidata-Mitarbeiterin zu machen, wurde verpasst. Als Lehrerin befasse ich mich ja viel mit Didaktik und damit, wie wichtig es ist, Lerngruppen da abzuholen, wo sie stehen, zu visualisieren, zu wiederholen, Infos bewusst zu reduzieren, und vor allem die SuS (Insidersprech für Schülerinnen und Schüler) zu aktivieren. Ich fühle mich aber gar nicht aktiviert, sondern eher gelähmt und ermüdet. Zum Glück sitzt der nette MB-one neben mir und zeigt mir nach der wirklich anstrengenden Vorlesung noch ein wenig, wie ich Wikidata-Einträge machen kann. Gar nicht so schwer, ich nehme mir vor, in Zukunft mehr daran zu denken.
Den Nachmittag verbringe ich ganz entspannt im großen Konferenzsaal, auch wenn inzwischen schon fast alle 700 Wikimania-Teilnehmenden angereist sind, ist es noch relativ leer dort. Zeit für Gespräche und Kaffee. Achim Raschka ist da und zeigt Hörnchenvideos und Magnus Manske erzählt von den Anfangstagen der Wikipedia. Weil es im Hotel so gut wie überall zu kalt ist, habe ich Halsschmerzen, also wärme ich mich auch mal kurz in meinem Zimmer wieder auf. Gegen 18 Uhr breche ich noch zu einem Spaziergang zum Fluss auf, draußen ist es sehr warm. In Montreal startet am Wochenende ein großes Techno-Festival, wir kommen zufällig an der Opening Party vorbei, sie ist sogar kostenlos, aber wir haben keine Zeit, denn die große Opening Ceremony beginnt. Es gibt ein tolles Essen, massenhaft Poutine, aber auch genügend vegetarische und vegane Dinge. Um neun wandern ze Germans gemeinsam zu einer Bar, wo Tim Moritz Hector und Abraham Taherivand uns noch einmal offiziell begrüßen und uns viel Spaß auf der Wikimania wünschen. Jetzt geht es aber endlich los, ich gehe früh ins Bett, denn die offizielle Eröffnung am Donnerstag will ich auf keinen Fall verschlafen.
Mittwoch
BearbeitenAm Mittwoch beginnen die sogenannten Preconferences. Parallel finden die nordamerikanische Variante der WikiCon und ein Hackathon statt. ich schließe mich erst einmal dem Culture Crawl der Wikiconference North America statt. In einer großen Gruppe wandern wir zusammen zur McGill-Uni und besichtigen eine Bibliothek, in der uns besondere Schätze wie alte Bilder, Bücher und eine riesige Bibelbox aus dem 17. Jahrhundert gezeigt werden.
Beim Mittagessen frage ich Daniel Kinzler, was man denn eigentlich genau macht bei einem Hackathon. Mit hacken hat es irgendwie nix zu tun, es geht vor allem um den Austausch unter den Programmierern, es werden Bugs gefixt und Probleme besprochen. Der Eventraum im Hotel ist riesig, an ungefähr 60 großen Tischen sitzen Leute mit Laptops, manche quatschen, andere sind in ihre Arbeit vertieft. Noch ist es ruhig bei der Wikimania, die Hauptkonferenz startet ja erst am Freitag, und es sind noch nicht alle Leute da. Das Netz funktioniert auch noch reibungslos, erfahrungsgemäß stürzt es im Laufe einer Wikimania ja regelmäßig ab. Ich nutze die gute Arbeitsatmosphäre, um mit dem Blog zu beginnen und schreibe darauf los. Darüber vergesse ich ganz die Zeit, für den Edit-a-thon über kanadische Frauen zu gehen, der irgendwo in der Altstadt stattfindet. Never mind, Artikel schreiben kann ich ja sowieso immer machen, wenn ich Lust habe.
Gegen 17 Uhr gehe ich mit Medea 7 und New York-air wieder zum Campus, wir möchten den freien Eintritt im McCord Museum (jeden Mittwoch von 17 bis 21 Uhr) nutzen und freuen uns auf eine Cartoon- und eine Mode-Ausstellung. Doch leider gilt der freie Eintritt nur für das Erdgeschoss. In der kleinen Ausstellung wird traditionelle Kleidung der Inuit und der Métis präsentiert. Wearing our identities. The first peoples collection heißt die Ausstellung, und sie ist ganz hübsch. Aber Robbenfellstiefel würde ich im Leben nicht tragen wollen. Wenn es ganz kalt wurde, haben die Métis übrigens fünf Schichten Stoff und Leder an den Füßen übereinander getragen. Wie man damit laufen kann, ist mir schleierhaft. Ich kann mir auch kaum vorstellen, wie kalt es hier wird, denn seit meiner Ankunft ist es warm und sonnig. Wir befinden uns ungefähr auf dem gleichen Breitengrad wie Venedig. Die Texte der Ausstellung sind übrigens auf Englisch und Französisch. Da ich so gut wie kein Französisch kann, hatte ich vor der Reise Sorge, ob ich mich verständigen kann, aber die Zweisprachigkeit der Menschen hier beeindruckt mich (ebenso wie die unaufgesetzte Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft) sehr. Völlig problemlos wechseln auch die Frankophonen sofort zu Englisch, wenn sie merken, dass ich sie nicht verstehe. Das hilft uns auch später sehr, als wir etwas ratlos durch die Altstadt irren, um das Lokal zu finden, in dem das Get-together der nordamerikanischen Wikicon sein soll. Das Treffen findet in einem Brauhaus statt, es gibt Bier und Burger, und wir lernen beim Essen Monika Sengul-Jones kennen, die als Wikipedian in Residence daran arbeitet Wikipedia-Kooperationen mit US-Bibliotheken zu initiieren, interessant. Berlin und Germany findet sie „awesome“, sie selbst kommt aus Seattle, ist sehr nett und genau wie ich in Wikipedia-Jahren fünf Jahre alt. Nach und nach trudeln noch ein paar Leute von den „ze Germans“ ein. SDKmac zeigt mir ganz stolz ein Foto, das er zusammen mit Jimmy Wales geschossen hat. Schön für ihn, aber ich würde das eher nicht machen. Nun ja, jetzt weiß ich, dass Jimmy Wales offenbar auch schon da ist, auch wenn ich ihm noch nicht begegnet bin. Mit zwei Wikidata-Menschen (auch aus Berlin) mache ich mich bald auf den Heimweg. Vor dem Hotel laufen Menschenmassen mit leuchtenden Neonarmbändern an uns vorbei. Sie kommen aus dem Coldplay-Konzert, das gerade zu Ende gegangen ist und sind gut drauf. Wir auch, denn wir treffen noch eine Menge Wikimania-Leute, die soeben in Montreal eingetroffen sind. Das Hotel ist bis zum letzten Raum ausgebucht. 34 Stockwerke, gefüllt mit Wikimedia-Menschen, irre. Kann langsam los gehen.
Dienstag
BearbeitenZeit für Sightseeing. Zur Feier des Tages ziehe ich mein Holzfällerinnenhemd an, damit ich gar nicht als Touristin auffalle. Als erstes geht es ab auf den Mont Royal, den Hausberg der Stadt, der sich direkt neben dem Stadtzentrum befindet. Earlyspatz und Daniel Kinzler kommen mit, natürlich reden wir deutsch miteinander und mein Hemd bringt mir gar nichts. Macht nichts, im Gegensatz zu Berlin mögen sie hier Touristinnen und Touristen. Es geht bergauf, es ist heiß, aber das hält die Montrealis nicht vom Joggen ab. Scheint hier der Volkssport zu sein, eigentlich flitzten ständig durchtrainierte Menschen scheinbar mühelos an einem vorbei. Radfahren scheint aber nicht so angesagt zu sein, in der City gibt es keine Radwege oder Fahrradständer. Vom Berg aus hat man einen tollen Blick über die Schönheit/Hässlichkeit dieser Stadt. Es gibt viel Grün und einen riesigen Fluss, aber eben auch ein total verbautes Stadtzentrum, mit unfassbar hässlichen Hochhäusern, die irgendwie nicht recht zusammen passen wollen. Auf dem Berg steht ein Klavier bereit, auf dem alle klimpern dürfen, das finde ich schön, kann aber nicht spielen. Unterhalb des Berges ist eine Straße voller Skulpturen, die zum Museum für moderne Kunst gehören, und aus aller Welt zu kommen scheinen. Hoffentlich finde ich noch Zeit für das Museum, es scheint cool zu sein und wirbt mit dem Motto „Revolution“ für sich, das klingt doch vielversprechend.
Nach einem kurzen Abstecher zur McGill University (ehrwürdiges Elite-Institut) machen wir einen Stopp in einer Pizzabude. Essen ist teuer in Montreal, aber rund um die Uni gibt es sogar Studi-Ermäßigungen. Am Nachmittag besichtige ich die Altstadt, die mich allerdings nicht besonders beeindruckt. Es gibt ein wenig Kopfsteinpflaster, ein Paar ältere Gebäude aus dem für Montreal typischen Kalksandstein, das war's Dann noch die üblichen Porträtmaler, Straßenkünstler und sonstigen Touristenbespaßer, und natürlich überteuerte Restaurants und Cafés für Touris. Langweilig. Auch der „alte“ Hafen ist nicht so spektakulär, ich kann nämlich nichts Altes entdecken. Richtig schön finde ich aber die Aussicht auf den großen Fluss, die frische Brise und den spektakulären Kletterpark mit integriertem „alten“ Piratenschiff. Am Wasser tummeln sich die Obdachlosen auf den Bänken, allerdings ohne Bier- und Schnapsflaschen, denn öffentliches Trinken ist hier streng verboten. Der deutschsprachige Artikel über Montreal enthält einen Abschnitt über „sichtbare“ soziale Probleme, aber anders als in Berlin, wo das Elend sichtbar immer größer wird, ist das Thema hier wenig präsent, was sicher auch mit Verdrängung zu tun hat.
Am Abend sind die Stipendiumsleute zu einem gemeinsamen Essen eingeladen. Wir kennen uns zwar schon vom Vortreffen in Berlin, aber es gibt immer noch viel Neues zu erfahren. Neben manchen Wikipedianern, die zwar erst Mitte zwanzig sind, bin ich mit meinen fünf Jahren WP-Erfahrung ein Kindergartenkind, sie haben nämlich zum Teil schon mit 13, 14 Jahren angefangen zu editieren. Als ich in dem Alter war, gab es zwar schon das Internet, aber für mich war das damals noch nicht mal Neuland, sondern einfach „Garkeinland“. Um zehn werde ich müde und gehe schon ins Bett. Durch die vielen Erlebnisse und Gespräche fühlt es sich so an, als wäre ich schon viel länger hier als nur zwei Tage.
Montag
BearbeitenDer Montag ist der Tag meiner Anreise. Ich fliege von Berlin aus über Reykjavik nach Montreal, und bei mir klappt zum Glück alles wunderbar. In diesem Jahr findet die Wikimania in einem großen Konferenzhotel statt, im Le Centre Sheraton Hotel. Von außen ist das Gebäude sehr hässlich, Brutalismus scheint Programm zu sein in Montreal. Von innen ist das Hotel echt amerikanisch, mit dicken Teppichen, viel Gold, und vor allem übertrieben klimatisiert. Zum Glück kann man im Zimmer die Klimaanlage ausschalten. Nachdem ich mich kurz frisch gemacht habe, gehe ich noch mit Veronika Krämer von WMDE und Fussi von Wikivoyage etwas trinken. Wir überlegen uns, wie man mehr Traveller dazu bringen könnte, bei Wikivoyage mitzumachen. Bestimmt wäre es hilfreich, wenn man endlich mal Artikel mit Mobilgeräten vernünftig bearbeiten könnte. Oder würde Werbung für Vikivoyage in den Airline-Magazinen etwas bringen? Lustigerweise begann auch meine erste Wikimania vor vier Jahren (Hong Kong 2013) mit einem Bier mit dem Fussi, den ich damals kurz nach meiner Ankunft am Victoria Harbour getroffen habe. Täglich grüßt das Murmeltier. :) Völlig übermüdet und vorfreudig aufgeregt falle ich dann frühmorgens (nach mitteleuropäischer Zeit) ins Bett.
About
BearbeitenAuf dieser Seite berichte ich über meine Erlebnisse bei der Wikimania 2017 in Montréal. Das Stipendium von Wikimedia Deutschland für Freiwillige der Wikimedia-Projekte hat mir die Teilnahme ermöglicht, wofür ich sehr dankbar bin. Dieser Blog ist sehr subjektiv, für mehr Infos empfehle ich diese Seiten: