Der Carlyle-Kreis (auch Lill-Kreis) ist ein spezieller Kreis im kartesischen Koordinatensystem, dessen Schnittpunkte mit der x-Achse mit den Schnittpunkten einer normierten quadratischen Funktion und der x-Achse übereinstimmen. Er kann damit zur geometrischen Konstruktion der Nullstellen einer normierten quadratischen Funktion verwandt werden.

Quadratische Funktion mit zugehörigem Carlyle-Kreis

Definition und Eigenschaften

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Für eine normierte quadratische Funktion   ist der Carlyle-Kreis definiert als derjenige Kreis, der die Verbindungsstrecke   der Punkte   und   als Durchmesser besitzt.[1][2]

Der so definierte Kreis besitzt den Mittelpunkt  , den Radius   und die x-Koordinaten seiner Schnittpunkte mit der x-Achse sind die Nullstellen der zugehörigen quadratischen Funktion. Letzteres sieht man, indem man die Schnittpunkte mit der x-Achse in der Kreisgleichung betrachtet:[2]

 

Für die Schnittpunkte mit der x-Achse gilt nun zusätzlich, dass ihre y-Koordinate 0 ist. Setzt man dies in der Kreisgleichung ein und löst die Gleichung dann nach x auf, so erhält man die p-q-Formel, die die Nullstellen einer normierten quadratischen Funktion berechnet:[2]

 
 
Trapez ABCD und Carlyle-Kreis

Man ergänze die Punkte   und   aus der Definition um die Punkte   und  . Sei   die Mittelparallele der Geraden   und   sowie   der Schnittpunkt von   mit der x-Achse; dann sind die Strecken   und   gleich. Der Carlyle-Kreis schneidet die Strecke   in den Punkten   und  .   halbiert die Strecke   im Mittelpunkt   des Carlyle-Kreises, sodass   auch eine Zentrale desselben ist. Wegen Achsensymmetrie zur Zentrale sind die Strecken   und   gleich, ebenso die Strecken  . Nach dem Satz des Thales ist der Winkel   ein rechter Winkel, was wiederum zur Folge hat, dass die Dreiecke   und   ähnlich sind. Dies liefert dann die folgende Verhältnisgleichung:

 

Weiterhin gilt auch   und damit aufgrund der Umkehrung des Wurzelsatz von Vieta, dass   und   Nullstellen von   sind.[2][3]

 
Komplexe Nullstellen einer normierten Parabel mit dem Carlyle-Kreis:
 

Dieser geometrische Nachweis der Eigenschaften des Carlyle-Kreises zeigt zudem, dass er sich als eine Modifikation eines Spezialfalls der Methode von Lill, einem graphischen Verfahren zur Bestimmung der Nullstellen eines Polynoms, auffassen lässt. Bei diesem werden zu einem gegebenen Polynom vom Grad   von einem gemeinsamen Punkt ausgehend zwei Polygonzüge der Längen   und   konstruiert. Fallen nun auch deren Endpunkte zusammen, so ist der Tangens des Winkels, den die beiden Polygonzüge am gemeinsamen Ausgangspunkt bilden, eine Nullstelle des Polynoms. Für eine normierte quadratische Funktion erhält man als Polygonzüge   und   und da diese beide in dem gemeinsamen Punkt   enden, ist   eine Nullstelle der quadratischen Funktion.[4]

Der Carlyle-Kreis kann auch verwandt werden, um die komplexen Nullstellen einer normierten quadratischen Funktion zu konstruieren. In diesem Fall schneidet der Carlyle-Kreis die x-Achse nicht. Der identische Realteil   der beiden komplexen Nullstellen entspricht dem vorzeichenbehafteten Abstand der Vertikalen   durch den Mittelpunkt   des Carlyle-Kreises zur y-Achse. Die Tangente vom Schnittpunkt   der Vertikalen   mit der x-Achse an den Carlyle-Kreis berührt diesen in  . Der Betrag des Imaginärteils   der Nullstelle entspricht dann der Länge der Strecke  . Alternativ lässt sich ein weiterer Kreis konstruierten, dessen Mittelpunkt   wie der des Carlyle-Kreises auf der Vertikalen   liegt. Der Radius des zweiten Kreises entspricht dem Abstand   des Mittelpunktes   des Carlyle-Kreises von der x-Achse. Weiterhin berühren sich beide Kreise von außen, der Kreis um   schneidet die x-Achse in   und  . Der Betrag des Imaginärteils der Nullstelle   entspricht dann der Länge der Strecken   oder  .[5]

Zum Beweis werde zu einer normierten quadratischen Gleichung mit den konjugiert komplexen Lösungen   und   deren Linearfaktor-Form   betrachtet und zu   vereinfacht. Koeffizientenvergleich mit der oben angegebenen Form ergibt   sowie  . Der genannte vorzeichenbehaftete Abstand ist die x-Koordinate   von   und für diesen  , wie behauptet. Die angegebenen Konstruktionen einer Strecke der Länge   sind beweisbar mit der Umformung:

 

Da jede Kreistangente senkrecht auf dem Berührradius steht, ist das Dreieck   rechtwinklig und mit Pythagoras  , also  , wie behauptet. Ist   der Berührpunkt des Carlyle-Kreises mit dem Kreis um  , so gilt für die Streckenlängen  , daher  . In den rechtwinkligen Dreiecken   ist mit Pythagoras  , also  , wie behauptet.

Polygonkonstruktionen

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Wurzeln von   am Einheitskreis in der komplexen Zahlenebene

Carlyle-Kreise können zur Zirkel-und-Lineal-Konstruktion diverser regulärer Polygone verwandt werden. Hierbei wird benutzt, dass alle Punkte der Ebene mit rationalen Koordinaten prinzipiell mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind; daher ist es möglich, einen Carlyle-Kreis mit Punkt   für   zu verwenden, ohne die Konstruktionsregeln zu verletzen.

Die prinzipielle Idee, die die Verwendung von Carlyle-Kreisen ermöglicht, besteht darin, die Eckpunkte eines regulären Polygons als die komplexen Wurzeln der Gleichung   auf dem Einheitskreis in der komplexen Zahlenebene aufzufassen. Aus mehreren komplexen Wurzeln leitet man dann zwei neue Zahlen her, die die Nullstellen einer normierten quadratischen Gleichung sind und somit mit Hilfe eines Carlyle-Kreises konstruiert werden können. Die beiden Zahlen sind zudem so gewählt, dass man bei ihrer Kenntnis die für sie verwendeten komplexen Wurzeln, also die Eckpunkte des Polygons, konstruieren kann. Im Folgenden wird dieser Ansatz am Beispiel des Fünfecks beschrieben, darüber hinaus lässt er sich insbesondere auch zur Konstruktion des Siebzehnecks, des 257-Ecks und des 65537-Ecks nutzen.[1]

 
Pentagonkonstruktion mit dem Carlyle-Kreis (grün)

Zur Konstruktion eines Fünfecks lässt sich nutzen, dass beliebige   Lösungen der Gleichung   sind. Für beliebige ganzzahlige   ist  , wegen der Periodizität der Exponentialfunktion auf den komplexen Zahlen ist  . Für   heißen die Lösungen die (fünften) Einheitswurzeln. Deren Summe ist  .

Nun wählt man die beiden Zahlen   und  . Da   und   (bzw.   und  ) konjugiert komplexe Zahlen sind, ist   (bzw.  ) der doppelte Realteil der zugehörigen  . Ferner ist

 

und auch

 

Damit sind   und   Nullstellen der normierten quadratischen Funktion  .[2]

Das ermöglicht das folgende Konstruktionsverfahren: Man zeichnet in einem x,y-Koordinatensystem mit Ursprung   zunächst den Einheitskreis, in diesen den Punkt   und den zu   gehörenden Carlyle-Kreis mit  , der die x-Achse in   und   schneidet. Ein Kreis um   (bzw.  ) mit Radius 1 schneidet den Einheitskreis in den Zahlen   (bzw.  ) oberhalb und   (bzw.  ) unterhalb der x-Achse. Die   sind die vier Einheitswurzeln  , die   zu einem Fünfeck ergänzen.[2]

Denn die Diagonalen der Raute   sind Symmetrieachsen derselben und halbieren einander. Wegen Symmetrie zu   sind   konjugiert komplex. Wegen Symmetrie zu   ist der Realteil von   die Hälfte von  , also der Realteil von  . Mit beiden Betrachtungen ist   und  , wie behauptet. Entsprechend folgt   und  .

Geschichte

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Carlyles Lösung von Leslies Problem. Die schwarze Strecke wird so geteilt, dass ihre Abschnitte ein Rechteck (grün) formen, das flächengleich zu einem vorgegebenen Rechteck (rot) ist. Man beachte, dabei nicht für jede Strecke eine interne Teilung zu einem vorgegebenen Flächeninhalt existiert, dies ist genau dann der Fall, wenn der konstruierte Kreis die Strecke   nicht schneidet. Um einen Schnitt sicherzustellen, muss der Radius größer sein als die Mittellinie des Trapezes, also   gelten. Bei einem gegebenen Rechteck mit Seiten   und zu teilender Strecke   gilt dann   und  . Eingesetzt in die obige Ungleichung erhält man dann  

Howard Eves (1911–2004) zufolge beschrieb der Mathematiker John Leslie (1766–1832) die Nullstellenkonstruktion mit Hilfe des Carlyle-Kreises in seinem Buch Elements of Geometry und merkte dort an, dass sie ihm von einem seiner Schüler, Thomas Carlyle (1795–1881), vorgeschlagen worden war.[6] Die Darstellung bei Leslie enthält zwar eine analoge Kreiskonstruktion, jedoch noch ohne kartesisches Koordinatensystem, quadratische Funktion oder explizite quadratische Gleichung, stattdessen ist sie in eine elementargeometrische Problemstellung zur Konstruktion flächengleicher Rechtecke eingekleidet. Carlyle verwendete dabei Kreis und Trapez, um die Aufgabe zu lösen:[3]

Teile eine Strecke so, dass ihre Abschnitte die Seiten eines neuen Rechtecks bilden, das flächengleich zu einem vorgegebenen Rechteck ist (Proposition XVII in der dritten Ausgabe von John Leslies Elements of Geometry).[3]

Mit den Mitteln, die im Abschnitt „Definition und Eigenschaften“ eingeführt sind, lässt sich das Problem in der nebenstehenden Zeichnung wie folgt bearbeiten: Bei gegebener Länge   der zu teilenden Strecke ist die Länge   der gesuchten Rechteckseite eine Lösung der Gleichung  , somit Nullstelle der normierten quadratischen Funktion  . Eine elementargeometrische Überlegung, wann eine Rechtecksseite der Länge   existiert, ist im Begleittext der Zeichnung aufgeführt; aus der Diskriminante des Funktionsterms ergibt sich diese Existenzbedingung mit  . Weiter lässt sich in die Zeichnung ein Koordinatensystem mit Ursprung   einführen, in dem die Seitenlänge   des gegebenen Rechtecks   die Längeneinheit ist, damit   die Fläche von  ; die Funktion wird zu  . Mit den Substitutionen   entstehen die oben eingeführten Koeffizienten und Koordinaten.

Der österreichische Ingenieur und Beamte Eduard Lill publizierte 1867 ein graphisches Verfahren zur Bestimmung der Nullstellen eines Polynoms (Lills Methode); wendet man dieses auf eine normierte quadratische Funktion an, so erhält man ebenfalls das weiter oben erwähnte Trapez   mit   und die Strecke   als Durchmesser des Carlyle-Kreises.[4] In einem 1925 veröffentlichten Artikel beschreibt G. A. Miller, dass man aus dem Verfahren von Lill im Falle einer normierten quadratischen Funktion eine Kreiskonstruktion ableiten kann, deren Schnittpunkte mit der x-Achse mit den Nullstellen der quadratischen Funktion übereinstimmen, und liefert damit die moderne Definition des Carlyle-Kreises.[7]

Eves verwendete den Kreis im modernen Sinne für eine Übungsaufgabe in seinem Buch Introduction to the History of Mathematics (1953) und stellte dort in einer Anmerkung den Bezug zu Carlyle her. Spätere Publikationen beginnen dann zunehmend die Bezeichnung Carlyle-Kreis oder Carlyle-Verfahren zu übernehmen. Duane W. DeTemple verwendete den Carlyle-Kreis (1989, 1991), um möglichst einfache Zirkel-und-Lineal-Konstruktionen bestimmter regelmäßiger Polygone zu erhalten.[1] Ladislav Beran beschrieb 1999, wie man den Carlyle-Kreis verwenden kann, um auch die komplexen Nullstellen einer normierten quadratischen Funktion geometrisch zu konstruieren.[5]

Literatur

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Commons: Carlyle circle – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b c Duane W. DeTemple: Carlyle Circles and the Lemoine Simplicity of Polygon Constructions. (Memento vom 11. August 2011 im Internet Archive; PDF) In: The American Mathematical Monthly, Vol. 98, No. 2 (Feb., 1991), S. 97–108 (JSTOR:2323939)
  2. a b c d e f Rainer Kaenders (Hrsg.), Reinhard Schmidt (Hrsg.): Mit GeoGebra mehr Mathematik verstehen. Springer Spektrum, 2. Auflage, 2014, ISBN 978-3-658-04222-6, S. 68-76
  3. a b c John Leslie: Elements of geometry and plane trigonometry: With an appendix, and copious notes and illustrations. 3. Ausgabe. Archibald Constable & Co, 1817, S. 176, S. 340. Dazu sei angemerkt, dass die Bemerkung zu Carlyle in den früheren Ausgaben des Buches (1809, 1811) noch nicht enthalten ist.
  4. a b Siehe Kaenders/Schmidt, S. 70–73. Man beachte hier, dass die Methode von Lill eigentlich nicht die angegebene Trapezfigur liefert, sondern eine zu ihr kongruente Figur, die um 90° gedreht und an der Horizontalen gespiegelt ist. Dadurch ist der Schnittwinkel im Ausgangspunkt der nach der Methode von Lill konstruierten kongruenten Figur negativ und dementsprechend ist dort nicht der Tangens des Schnittwinkels eine Nullstelle des Polynoms, sondern der negative Tangens
  5. a b Ladislav Beran: The Complex Roots of a Quadratic from a Circle. In: The Mathematical Gazette, Vol. 83, No. 497 (Jul., 1999), S. 287–291 (JSTOR:3619064)
  6. Siehe dazu z. B. Hornsby, DeTemple oder Howard Eves: An Introduction into the History of Mathematics. 3. Ausgabe. Holt, Reinhart and Winston, 1969, S. 73
  7. G. A. Miller: Geometric Solution of the Quadratic Equation. In: The Mathematical Gazette, Vol. 12, No. 179 (Dez., 1925), S. 500–501 (JSTOR:3602823)