Der "Sitz im Leben" kann nie für einen Text bestimmt werden, wie es der Artikel suggeriert. Ein Text hat seinen Sitz im Buch.

Der "Sitz im Leben" lässt sich nur für mdl. Überlieferung bestimmen. So hat der erwähnte Abzählreim seinen "Sitz im Leben" im Spiel der Kinder. Das Tischgebet hat seinen "Sitz im Leben" an der häuslichen Tafel. Ein Märchen hat seinen Sitz in der volkstümlichen Unterhaltung (oder vielleicht auch Belehrung?) - natürlich nur bis zu seiner Verschriftlichung. Usw.Usf.

Der Sitz im Leben fragt nicht nach dem Entstehungszusammenhang eines Textes, sondern nach dem (mündlichen) Überlieferungszusammenhang. Es geht um die Frage, in welchem Zusammenhang ein Text immer wieder gesprochen, gesungen oder sonstwie performiert wurde, bis er schließlich verschriftlicht wurde. So ist der Sitz im Leben des Vaterunsers nicht die (ohnehin fiktionale) Bergpredigt oder eine andere Situation im Leben Jesu, sondern der antike Gottesdienst.

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