Fragmente von Autun

Paraphrase zu den hochklassischen Institutionen des Gaius

Die anonymen Fragmente von Autun (auch: Gaius von Autun, beziehungsweise Fragmenta Interpretationis Gai Institutionum Augustodunensia, verkürzt Fragmenta Augustodunensia, in Quellenangaben kurz: FA) sind eine auf 15 Palimpsestblättern fragmentarisch erhalten gebliebene und in der französischen Stadtbibliothek von Autun aufbewahrte Paraphrase zu den hochklassischen Institutionen des Gaius, mutmaßlich aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. (ausgewählte Kommentarliteratur),[1] möglicherweise schon aus dem Jahr 300 n. Chr.[2]

Entdeckung und Bedeutung

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1899 publizierte der französische Paläograf Émile Chatelain sechs Blätter des Palimpsests, nachdem es ihm im Vorjahr gelungen war, die scriptura inferior als Verarbeitung des gaianischen Anfängerlehrbuchs zu identifizieren.[3] Palimpsestiert war die getilgte Handschrift durch eine bis heute augenscheinliche, halbunziale und wohl im 6. oder 7. Jahrhundert entstandene Abschrift der ihrerseits gegen etwa 420 n. Chr. entstandenen Achtlasterlehre De institutis coenibiorum et de octo principalibus vitiis („Über die Grundsätze der Koinobiten und die acht Hauptlaster“) von Johannes Cassianus.[4] Die Schrift trägt deshalb auch den Namen Instituta Cassiani. Darauf gestoßen war Chatelain aufgrund einer beiläufigen Bemerkung Guglielmo Libris. Als der gerade französische Handschriften katalogisierte, verwunderte ihn die dünne Erscheinung des Pergaments, was ihn an eine Wiederverwendung des Werkstoffs denken ließ (codex rescriptus).[5] Die anschließende Entzifferung des fragmentarischen Textes gestaltete sich für alle involvierten Forscher als äußerst diffizil, denn seiner Erscheinung nach handelte es sich bei der Handschrift um einen codex sepultus, Tintenspuren fehlen zumeist gänzlich.[5] Paul Krüger edierte die vorzüglich ausradierte[6] Paraphrase 1912 vollständig. Spätere Editionen basieren auf seiner Ausgabe.[3][1]

Es wird davon ausgegangen, dass die ursprüngliche Handschrift aus der spätnachklassischen Epoche der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts stammt. Geschaffen wurde sie wohl in Italien oder Südfrankreich, möglicherweise in Autun selbst. In der Forschung wird darüber diskutiert, ob ein früheres Entstehungsdatum in Erwägung zu ziehen sei. Größere Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass dem Verfasser die Bedeutung einiger klassischer Rechtsbegriffe unbekannt war. Das lege dann auch den Schluss nahe, dass die Auseinandersetzungen mit den Rechtsgelehrten Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin[7] recht weit schon in Vergangenheit gelegen haben müssen, mindestens wohl ein bis zwei Menschenalter. Andererseits wird ein späterer, jenseits der Mitte des 4. Jahrhunderts liegender, Entstehungszeitpunkt des Werkes zurückgewiesen, da die sprachliche und didaktische Nähe zum Rechtsunterricht der Klassiker noch hinreichend gut erkennbar sei.[8] Zwar sind sie teilweise unleserlich, aber insgesamt sind sieben Bruchstücke des gaianischen Elementarwerkes nachweisbar. Die entzifferten Passagen deuten auf Fundstellen aus drei der vier Gaiusbücher hin.[9] Inhaltlich beschäftigt sich das Werk mit Zivil- und Zivilprozessrecht.[1] Mit der Gaiusparaphrase konnten Erkenntnisse zu den Stipulationswortlauten gewonnen werden, die im Zusammenhang mit Erbschaftskäufen stehen.[10] Die moderne Forschung bringt aus den Blättern schmale – bislang unbekannte – Schriftmassen zwar zum Vorschein, inhaltliche Erhellung bleibt allerdings aus.[11]

Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass das Werk im Rahmen eines juristischen Lehrgangs verfasst worden sein muss. Im 6./7. Jahrhundert soll es ausgemustert und danach wiedereingeführt worden sein.[12] Die Darbietung des Urtextes erfolge wortgetreu, sodass kaum anzunehmen sei, dass redaktionell darauf eingewirkt wurde.[13]

Der Neuzeit ist das gaianische Werk weitestgehend indirekt überliefert.[14] Die Handschrift ist insgesamt wenig ergiebig und kann daher nur als kleiner Baustein für den Erkenntnisgewinn angesehen werden. Auch zur Behebung von Textlücken der Gaius Veronensis, einer weiteren Kommentarliteratur zur gaianischen Handschrift, dienten die Fragmente nicht.[5] Deutlich größere Bedeutung für die Forschung erlangten die spätantiken Manuskripte der Collatio, und die Epitome Gai (enthalten in der lex Romana Visigothorum). Die Institutiones Iustiniani und die Digesten sind ebenfalls ergiebiger, sie waren im Rahmen der justinianischen Rechtsordnung des Corpus iuris civilis geschaffen worden.[3]

Ausgaben

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  • Gaius: Gai institutiones ad codicis Veronensis apographum Studemundianum novis curis auctum in usum scholarum (...). Insunt supplementa ad codicis Veronensis apographum a Studemundo composita. Accedunt fragmenta interpretationis Gai institutionum Augustodunensia ad recensionem Aemilii Chatelain edita a Paulo Krueger. Hrsg.: Paul Krüger, Wilhelm Studemund (= Paul Krüger, Theodor Mommsen, Wilhelm Studemund [Hrsg.]: Collectio librorum iuris anteiustiniani in usum scholarum (...). Band 1). 7. Auflage. Weidmann, Berlin 1923, S. XL–LXVI (Latein, archive.org).

Literatur

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  • Gerhard Dulckeit, Fritz Schwarz, Wolfgang Waldstein, J. Michael Rainer: Römische Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch. 11., neu bearbeitete Auflage. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-65425-1, § 39 II 2, S. 229 ff., (Die späte Kaiserzeit (Dominat): Das nachklassische Recht und die Kodifikationen.).
  • Theodor Mommsen: Der Pseudo-Gaius von Autun. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung. Band 20, 1899, S. 235236.
  • Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones (= Studia Gaiana. 6). Brill, Leiden 1981, ISBN 90-04-06306-4, S. 80, 96 ff., 123 ff.
  • José-Domingo Rodríguez Martín: Neu entdeckte Schriftspuren im Palimpsest des Gaius von Autun. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung. Band 130, 2013, S. 478–487, doi:10.7767/zrgra.2013.130.1.478, (online).
  • A. Arthur Schiller: Roman Law. Mechanisms of Development. Mouton u. a., Den Haag u. a. 1978, ISBN 90-279-77-44-5, S. 43–46.
  • Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1961, S. 381 (erschienen zuerst in englischer Übersetzung unter dem Titel: History of Roman Legal Science. Clarendon Press, Oxford 1946).

Anmerkungen

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  1. a b c Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien. (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, ISBN 3-428-06157-8, S. 144–150.
  2. Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 38). Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 978-3-428-10936-4. S. 119.
  3. a b c Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones. 1981, S. 96 ff. (online).
  4. Émile Chatelain: Les plus vieux manuscrits d’Autun mutilés par Libri. In: Journal des Savants. 1898, S. 377–381.
  5. a b c José-Domingo Rodríguez Martín: Neu entdeckte Schriftspuren im Palimpsest des Gaius von Autun, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung). Band 130, Heft 1, 2013. S. 478–487 (479–481).
  6. Entsprechend der Klassifizierung des deutschen lutherischen Theologen Franz Anton Knittel (18. Jahrhundert) – vgl. hierzu F. A. Knittel: Vlphilae uersionem gothicam nonnullorum capitum Epistolae Pauli ad Romanos, Braunschweig 1762, S. 215 – wurde der Palimpsest in Abgrenzung zu den codices seminanimes und semisepulti als codex sepultus bezeichnet, also eines der am besten ausradierten Beispiele einer Vorlage für die wissenschaftliche Arbeit; Émile Chatelain führt in seinem Werk Les plus vieux manuscrits in Fußnote 1 (S. 379) aus: „Nous avons là un palimpseste fort curieux en ce que la première écriture a été lavée dans la perfection, et qu’il faut faire bien attention pour apercevoir les traces de creux laissées par les premières caractères. Das Gegenbeispiel bilden die Palimpseste, die so oberflächlich radiert sind, dass die scriptura inferior im Laufe der Zeit von selbst und ohne die Hinzufügung von Reagenzien wieder lesbar wird.“
  7. Ihr unmittelbares Wirken bestimmt vornehmlich das frühe 3. Jahrhundert.
  8. Beispiel: Der Rechtsbegriff ius Latii wird fehlgehend als Abart des römischen Bürgerrechts verstanden; zutreffend war jedoch seine Bedeutung als Fremdenrecht, als ius peregrinum. Gegen einen abrückend späteren Entstehungszeitpunkt, also ab Mitte des 4. Jahrhunderts beziehungsweise des 5. Jahrhunderts, spräche nach Auffassung von Nelson/Liebs, dass die Schrift noch sehr der klassischen Schultradition verhaftet gewesen sei.
  9. I, II und IV Gai inst. 1, 93–99; 124–129; 2, 162–171; 247–271; 4, 80–109; 4, 39 und 45/46.
  10. Ulrich Manthe: Das senatus consultum Pegasianum (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 12). Duncker und Humblot, Berlin 1989 (Habilitationsschrift). S. 28–31.
  11. José-Domingo Rodríguez Martín: Neu entdeckte Schriftspuren im Palimpsest des Gaius von Autun, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung). Band 130, Heft 1, 2013. S. 478–487 (481 ff. mit Abbildungen).
  12. Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 38). Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 978-3-428-10936-4. S. 123.
  13. Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft. 1961, S. 381 charakterisierte das Werk als lemmatischen Kommentar, was nach Detlef Liebs jedoch durch Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones. 1981, S. 123 ff. widerlegt sei.
  14. Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones. 1981, S. 80.