Great-Barrington-Erklärung

Dokument, das am American Institute for Economic Research in Great Barrington (Massachusetts) verfasst wurde

Die Great-Barrington-Erklärung ist ein Dokument, das vom American Institute for Economic Research in Great Barrington (Massachusetts) verfasst und am 4. Oktober 2020 vom Mediziner Martin Kulldorff, der Epidemiologin Sunetra Gupta und dem Epidemiologen Jay Bhattacharya unterzeichnet wurde. Es empfiehlt im Rahmen der COVID-19-Pandemie den „gezielten Schutz“ der Risikogruppen, während jungen Menschen und Personen mit einem geringeren Sterberisiko erlaubt werden solle, ihr normales Leben zu führen, bis durch natürliche Ansteckungen eine Herdenimmunität erreicht sei. Dadurch sollen die durch einen Lockdown oder Shutdown verursachten Kollateralschäden vermieden werden.[1][2][3]

Die Great-Barrington-Erklärung

Von der Mehrheit an Experten wurde die Petition klar zurückgewiesen.[4] Die WHO, Stimmen aus der Forschung und öffentlichen Gesundheitsversorgung kritisieren Teile der Great-Barrington-Erklärung: Unter anderem sei das Konzept, Personen mit geringerem Sterberisiko der Gefahr der Ansteckung in der Pandemie auszusetzen, um damit eine Herdenimmunität zu erreichen, ethisch problematisch und nicht wissenschaftlich fundiert.[5][6][7] Die Gesellschaft für Virologie hält das Konzept ebenfalls für nicht tragfähig.[8] Hingegen wurde Zustimmung durch Bots in Social Media festgestellt, was auf eine Manipulation der Debatte zu Lasten der wissenschaftlichen Konsensmeinung hindeutet, die die Herdenimmunitätsstrategie der Great Barrington-Erklärung ablehnt.[4]

In der wissenschaftlicher Fachliteratur wurde die Great-Barrington-Erklärung als antiwissenschaftliche Desinformationskampagne von hochgradig organisierten Kräften aus dem libertären Umfeld beurteilt. Sie sei eine vom u. a. für Klimawissenschaft leugnende Aussagen bekannten libertären Think Tank gesponserte Petition, in der eine Vielzahl von Unterzeichnern, von denen viele über keine relevante Expertise verfügten, für eine Herdenimmunitätsstrategie bei COVID-19 votierten, bei der die Pandemie weitgehend ungehindert durch die Bevölkerung laufen sollte und nur besonders Gefährdete (vorgeblich) geschützt werden sollten. Tatsächlich werde jedoch eine solche Position von der Mehrheit der Fachleute abgelehnt und werde auch von der Weltgesundheitsorganisation als schlicht „unethisch“ eingeordnet.[9]

Inhalt

Die Verfasser und Unterzeichner der Erklärung richten sich insbesondere gegen Lockdowns als Mittel der Pandemiebekämpfung und führen an, dass diese „kurz- und langfristig verheerende Auswirkungen“ auf die Gesundheit der Bevölkerung habe. Als Ausgangspunkt dieser Überlegungen werden folgende unerwünschte Folgen der bisherigen Eindämmungsstrategie genannt: eine niedrigere Impfquote bei Kindern, schlechtere Verläufe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, eine geringere Inanspruchnahme von Krebsvorsorgeuntersuchungen sowie die Folgen für die psychische Gesundheit. Die Autoren folgern, dass daraus eine in Zukunft erhöhte Sterblichkeit resultiere. Die Schließung der Schulen stelle eine Ungerechtigkeit dar. Folgen der Lockdowns würden die Arbeiterschicht sowie die jüngere Generation am stärksten treffen.[10]

Demgegenüber schlagen die Verfasser vor, nicht schutzbedürftigen Menschen mit geringerem Sterberisiko zu erlauben, ihr normales Leben weiterzuführen und dabei lediglich einfache Hygienemaßnahmen wie Händewaschen zu beachten. Über Mund-Nasen-Masken trifft die Erklärung keine Aussage. Der beste Schutz für die Risikogruppen bestehe in der dadurch zu erreichenden Herdenimmunität. Bis zum Erreichen der Herdenimmunität seien die Maßnahmen der Politik auf den bestmöglichen Schutz der gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu konzentrieren (focused protection). Als Maßnahmen werden genannt, durch PCR-Tests sicherzustellen, dass gefährdete Personen in Pflegeheimen nicht mit erkranktem Personal oder Besuchern in Kontakt kommen. Gefährdete Personen zu Hause sollten sich Lebensmittel und andere wichtige Güter nach Hause liefern lassen.[10]

Rezeption

Die WHO kritisiert das Konzept, allein durch unkontrollierte Erregerausbreitung eine Herdenimmunität zu erreichen, da nicht erwiesen sei, dass eine dauerhafte Immunität gegen das Virus erreicht werden könne. Außerdem wisse man noch zu wenig über das Virus und insbesondere über die Langzeitfolgen auch bei überstandener Infektion. Diese Vorgehensweise sei daher unethisch und nicht vertretbar.[6][5]

Mit dem John Snow Memorandum veröffentlichten am 15. Oktober 2020 über 80 Wissenschaftler und Experten eine Denkschrift in The Lancet, die den alleinigen Schutz der gefährdeten Bevölkerungsgruppen als gefährlichen Irrweg beschreibt und stattdessen weiterhin den Schutz aller Bevölkerungsgruppen fordert, bis ein Impfstoff erschienen ist.[10][7]

Zwar betonen die Unterzeichner Kulldorff, Gupta und Bhattacharya, unabhängig von Interessenkonflikten gehandelt zu haben; in Rezeptionen wird jedoch darauf hingewiesen, dass das American Institute for Economic Research als libertäre Denkfabrik gilt, die sich schon davor stark gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gestellt hatte.[11] Das American Institute for Economic Research wird unter anderem von der Charles Koch Foundation finanziert, welche auch den menschengemachten Klimawandel in Zweifel zieht.[12]

Die Gesellschaft für Virologie kritisierte, eine „Durchseuchung“ würde nicht nur die Gesundheit derjenigen, die nicht geschützt werden, langfristiger beeinträchtigen, sondern auch wirtschaftlichen Schaden verursachen. Zudem sei ein Aufteilen der Bevölkerung in ungefährdet und gefährdet aufgrund der vielen darauf einwirkenden Faktoren und der Schutz der Gefährdeten bei hohen Infektionszahlen nicht möglich und keine gesellschaftlich zu wünschende Strategie. Es hätten vielmehr mehrere Staaten gezeigt, dass eine breite Eindämmung „der beste Weg“ sei.[8]

Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases, hält die Idee der Schaffung einer Herdenimmunität durch unkontrollierte Ansteckungen für unsinnig und gefährlich; dies würde zu vielen vermeidbaren Todesfällen führen. Dabei geht er davon aus, dass in den USA ein Drittel der Population vulnerabel sei und schwerwiegendere Krankheitssymptome bei COVID-19 entwickeln würde. Den Schutz dieser vulnerablen Gruppen, auch derjenigen, die nicht in Einrichtungen wie Pflegeheimen leben, sieht er als nicht möglich an.[13]

Christian Drosten beurteilt die Great-Barrington-Erklärung als Desinformation falscher Experten im Sinne der Wissenschaftsleugnung. Unter anderem verweist er darauf, dass die Initiatoren „eine Gruppe von Pseudoexperten“ seien, die keine relevante fachspezifische Expertise in der Virologie besäßen, sich aber trotzdem öffentlichkeitswirksam zu infektionsepidemiologischen Themen äußerten.[14] Ebenfalls zog er einen Vergleich mit der 2020 publizierten Stellungnahme[15] der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die er mitverantwortlich machte für einen starken Anstieg der Infizierten- und Hospitalisiertenzahlen Ende 2020. Diese sei eine „deutsche Version der Great Barrington-Erklärung“ gewesen, ein Positionspapier, das eigentlich „die Auffassung von Wissenschaft und Ärzteschaft vertreten sollte“, tatsächlich aber „nur die Auffassung einiger weniger wiedergegeben“ habe, „die ohne wissenschaftliche Begründung Eigenverantwortung statt Verbote forderten“.[16]

Martin McKee und David Stuckler schrieben in The BMJ u. a. mit Verweis auf die oben genannte Lancet-Arbeit, dass der Ansatz der Erklärung „zutiefst fehlerhaft“ sei und seine Befürworter keinerlei Argumente geliefert hätten, wie man bis zu 40 % der Bevölkerung wirksam isolieren sollte. Zudem verwiesen sie auf das Urteil des Präsidenten der UK Academy of Medical Sciences, dass die in der Erklärung gemachten Vorschläge „unethisch und einfach nicht möglich“ seien. Problematisch sei, dass die Mitzeichnung gutmeinender Wissenschaftler und Ärzte den Anschein erwecke, die Wissenschaft sei in zwei ähnlich starke, miteinander konkurrierende Lager zerfallen, was das Vertrauen in die Wissenschaft untergrabe. In dieser Hinsicht verweisen sie auf die von weiteren Stimmen geäußerte Ähnlichkeit des Vorgehens mit dem Hervorrufen von Zweifeln am Klimawandel oder der Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens.[17]

Martin Eichner, Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, kritisiert Schwächen bei der Ausarbeitung des Konzeptes. Bei Mehrgenerationenhaushalten sieht er kaum Möglichkeiten, das Infektionsrisiko zu senken. Zudem könne die Infektion durch die zu erwartende höhere Inzidenz in der Bevölkerung auch wieder leichter in Alten- und Pflegeheime getragen werden; durch PCR-Tests könne dies nicht in allen Fällen verhindert werden.[11]

Ansgar W. Lohse, Infektiologe und Klinikdirektor am Universitätskrankenhaus Eppendorf in Hamburg, ist der Erklärung beigetreten. Er sagt in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, dass eine Herdenimmunität benötigt werde. Es stelle sich nur die Frage, ob dies durch eine Impfstrategie alleine oder durch weit verbreitete Infektionen erreicht werde. Seiner Meinung nach biete eine Kombination von beidem den besten Schutz. Dabei müssten die Risikogruppen besonders geschützt werden. Nichts anderes fordere die Erklärung.[18]

Ferner wurde das Dokument in einem Leitartikel des Wall Street Journals befürwortet.[19]

Einige Tage nach Veröffentlichung trafen sich der damalige Berater der Regierung Trump zu COVID-19 Scott Atlas sowie der Gesundheitsminister Alex Azar mit den Verfassern.[20] Azar gab dieses Treffen auf Twitter bekannt und erklärte, er habe starke wissenschaftliche Quellen gehört, die die Politik der Trump-Administration unterstützten, die Anfälligen zu schützen, aber Wirtschaft und Schulen zu öffnen.[21] Auch Floridas Gouverneur Ron DeSantis hatte sich im September 2020 mit Bhattacharya, Gupta und Kulldorff getroffen.[21] Anonyme Quellen aus dem Weißen Haus berichteten, die Regierung bereite sich darauf vor, das in der Erklärung beschriebene Konzept zum Erreichen einer Herdenimmunität umzusetzen,[22] später dementierte Scott Atlas diese Behauptung.[23]

Siehe auch

Literatur

  • Christie Aschwanden: The false promise of herd immunity for COVID-19. In: nature.com. 21. Oktober 2020, doi:10.1038/d41586-020-02948-4.
  • Nisreen A. Alwan, Rochelle Ann Burgess, Simon Ashworth, Rupert Beale, Nahid Bhadelia, Debby Bogaert, Jennifer Dowd, Isabella Eckerle, Lynn R. Goldman, Trisha Greenhalgh, Deepti Gurdasani, Adam Hamdy, William P. Hanage, Emma B. Hodcroft, Zoë Hyde, Paul Kellam, Michelle Kelly-Irving, Florian Krammer, Marc Lipsitch, Alan McNally, Martin McKee, Ali Nouri, Dominic Pimenta, Viola Priesemann, Harry Rutter, Joshua Silver, Devi Sridhar, Charles Swanton, Rochelle P. Walensky, Gavin Yamey, Hisham Ziauddeen: Scientific consensus on the COVID-19 pandemic: we need to act now. In: The Lancet. online 14. Oktober 2020, 2 S., doi:10.1016/S0140-6736(20)32153-X (Deutsche Übersetzung).
  • Jeanne Lenzer: Covid-19: Group of UK and US experts argues for “focused protection” instead of lockdowns. In: The BMJ. Band 371, m3908, 7. Oktober 2020, doi:10.1136/bmj.m3908.

Einzelnachweise

  1. Jeanne Lenzer: Covid-19: Group of UK and US experts argues for “focused protection” instead of lockdowns. In: The BMJ. 7. Oktober 2020, doi:10.1136/bmj.m3908.
  2. „Great Barrington Declaration“: Virologen kritisieren Konzept der Herdenimmunität. Deutschlandfunk, 20. Oktober 2020, archiviert vom Original am 27. Oktober 2020; abgerufen am 23. Oktober 2020.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.deutschlandfunk.de
  3. AIER Hosts Top Epidemiologists, Authors of the Great Barrington Declaration. American Institute for Economic Research, 5. Oktober 2020, abgerufen am 23. Oktober 2020.
  4. a b Stephan Lewandowsky: Liberty and the pursuit of science denial. In: Current Opinion in Behavioral Sciences. Band 42, 2021, S. 65–69, doi:10.1016/j.cobeha.2021.02.024.
  5. a b Regina Zilbermints: Dozens of public health groups, experts blast ‘herd immunity’ strategy backed by White House. 15. Oktober 2020, abgerufen am 23. Oktober 2020 (englisch).
  6. a b WHO chief says herd immunity approach to pandemic ‘unethical’. In: The Guardian. 12. Oktober 2020, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 23. Oktober 2020]).
  7. a b John Snow Memorandum, abgerufen am 24. Oktober 2020.
  8. a b Bartenschlager et al: Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die Covid-19 Pandemie. 2020.
  9. Stephan Lewandowsky et al.: When Science Becomes Embroiled in Conflict: Recognizing the Public’s Need for Debate while Combating Conspiracies and Misinformation. In: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science. Band 700, Nr. 1, 2022, S. 26–40, doi:10.1177/00027162221084663.
  10. a b c Deutscher Ärzteverlag GmbH, Redaktion Deutsches Ärzteblatt: SARS-CoV-2: Experten streiten über Herdenimmunität als Strategie. 15. Oktober 2020, abgerufen am 26. Oktober 2020.
  11. a b tagesschau.de: „Great Barrington Declaration“: Alte Ideen – neu verpackt. Abgerufen am 23. Oktober 2020.
  12. Herdenimmunität durch unkontrollierte Corona-Infektion? In: ZDF. Abgerufen am 23. Oktober 2020.
  13. Noah Higgins-Dunn: Dr. Fauci says letting the coronavirus spread to achieve herd immunity is ‘nonsense’ and ‘dangerous’. In: CNBC. 15. Oktober 2020, abgerufen am 24. Oktober 2020 (englisch).
    Fauci on herd immunity: ‘Quite frankly, that is nonsense’. In: Yahoo News. Abgerufen am 2. November 2020 (amerikanisches Englisch).
  14. Theo Dingermann: Desinformation. Die Tools der Leugner. In: Pharmazeutische Zeitung, 6. April 2021. Abgerufen am 9. April 2021.
  15. Kritik an Streeck-Papier gegen Shutdown nimmt zu. In: Süddeutsche Zeitung, 1. November 2020. Abgerufen am 28. Dezember 2022.
  16. Birgit Herden, Sascha Karberg: Tagesspiegel Plus Christian Drosten zur Überlastung: „Die Notsituation in den Kliniken wird quälend lange dauern“. In: Der Tagesspiegel, 27. Dezember 2022. Abgerufen am 28. Dezember 2022.
  17. Martin McKee, David Stuckler: Scientific divisions on covid-19: not what they might seem. In: The BMJ. Band 371, Nr. 8265, 2020, doi:10.1136/bmj.m4024.
  18. „Wir brauchen eine Doppelstrategie gegen Corona“. Hamburger Abendblatt, 24./25. Oktober 2020, S. 10.
  19. The Editorial Board: Opinion | Trump, Covid and Reason. In: Wall Street Journal. 6. Oktober 2020, ISSN 0099-9660 (wsj.com [abgerufen am 24. Oktober 2020]).
  20. Lenzer: Covid-19: Group of UK and US experts argues for “focused protection” instead of lockdowns. 2020.
  21. a b Joshua Cohen, The Trump Administration Goes All In On Herd Immunity, Forbes Magazin vom 10. Oktober 2020.
  22. Tom Porter: The White House is embracing a ‘herd immunity’ strategy that would allow COVID-19 to spread freely and is widely disputed by scientists. Abgerufen am 24. Oktober 2020.
  23. Yasmeen Abutaleb, Philip Rucker, Josh Dawsey, Robert Costa: Trump’s den of dissent: Inside the White House task force as coronavirus surges. In: Washington Post. ISSN 0190-8286 (washingtonpost.com [abgerufen am 24. Oktober 2020]).