I’m Still Here (2024)
I’m Still Here (Originaltitel: Ainda estou aqui) ist ein Spielfilm von Walter Salles aus dem Jahr 2024. Das Drama stellt die brasilianische Politikergattin Eunice Paiva in den Mittelpunkt, die sich während der Militärdiktatur auf die Suche nach ihrem 1971 verschwundenen Ehemann Rubens begibt. Jahrzehnte später wird es Gewissheit, dass er zu den „Desaparecidos“ gehört, tausenden von unschuldigen Bürgern, die verhaftet oder entführt und anschließend gefoltert und ermordet wurden. In der Zwischenzeit erfindet sich die zuvor unpolitische Eunice neu, hält ihre Familie zusammen und bildet sich zur Menschenrechtsanwältin weiter.
Bei I’m Still Here handelt es sich um die Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Buches von Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn von Rubens und Eunice Paiva. In der brasilianisch-französischen Koproduktion übernahmen Fernanda Torres, Selton Mello und Fernanda Montenegro die Hauptrollen. Der Film wurde Anfang September 2024 beim Filmfestival von Venedig uraufgeführt und mehrfach preisgekrönt. Auch wurde Salles’ Regiearbeit als brasilianischer Beitrag für die Kategorie Bester Internationaler Film der Oscarverleihung 2025 ausgewählt.
Film | |
Titel | I’m Still Here |
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Originaltitel | Ainda estou aqui |
Produktionsland | Brasilien, Frankreich |
Originalsprache | Portugiesisch |
Erscheinungsjahr | 2024 |
Länge | 135 Minuten |
Stab | |
Regie | Walter Salles |
Drehbuch | Murilo Hauser, Heitor Lorega |
Produktion | Maria Carlota Bruno, Rodrigo Teixeira, Martine de Clermont-Tonnerre |
Musik | Warren Ellis |
Kamera | Adrian Teijido |
Schnitt | Affonso Gonçalves |
Besetzung | |
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Handlung
BearbeitenRio de Janeiro im Jahr 1971: Rubens Paiva, ein früherer Kongressabgeordneter, der einst im Exil lebte, gilt als ausgesprochener Kritiker der brasilianischen Militärdiktatur. Er ist mit Eunice verheiratet, die sich in keiner Weise für das politische Zeitgeschehen um sie herum interessiert. Obwohl es jeden Tag zu Kontrollen und Verhaftungen kommen kann, hält sie für die fünf gemeinsamen Kinder ein idyllisches Familienleben in einem Haus am Strand aufrecht. Eines Nachmittags ändert sich ihr Leben schlagartig, als Regierungsbeamte Rubens aus dem Haus zerren. Sie geben an, dass er bei den Behörden eine Aussage hinterlegen müsse. Kurze Zeit später erleidet Eunice das gleiche Schicksal. Zwölf Tage muss sie in einem fensterlosen Gefängnis zubringen und wird vernommen. Sie soll Freunde und Arbeitskollegen belasten, die linker Aktivitäten beschuldigt werden. Als Eunice aus dem Gefängnis entlassen wird, will sie in Erfahrung bringen, was mit ihrem Mann geschehen ist. Sie lässt sich auf einen erbitterten Kampf gegen das Regime ein. Gleichzeitig muss sie sich um ihre Kinder kümmern und hält die Familie zusammen. Die Suche nach Rubens verzehrt mehrere Jahrzehnte von Eunices Leben. Mit der Zeit lernt sie, mit dem Leid zu leben und es zu überstehen. Die zuvor unpolitische Hausfrau erfindet sich trotz begrenzter finanzieller Mittel neu. Eunice beschließt Anwältin zu werden und ein Universitätsstudium aufzunehmen. Sie wird in der Folge zur Aktivistin, Menschenrechtsanwältin für die Rechte Indigener und Heldin der „Desaparecidos“ – tausende von unschuldigen Bürgern, die verhaftet oder entführt und anschließend gefoltert und ermordet wurden.[1][2][3][4] im Jahr 1996 erhält sie die offizielle Bestätigung, dass ihr Ehemann gefoltert und ermordet wurde. Eunice mutet es seltsam an, dass sie mit Erhalt seines Totenscheins Erleichterung verspürt.[5]
Entstehungsgeschichte
BearbeitenI’m Still Here ist der zehnte Kinospielfilm des brasilianischen Regisseurs Walter Salles und der erste seit On the Road – Unterwegs (2012). Das Drehbuch von Murilo Hauser und Heitor Lorega basiert auf dem 2015 erschienenen Buch Ainda estou aqui von Marcelo Rubens Paiva über das Schicksal seiner Eltern. Salles kannte die Familie persönlich, war mit den Paiva-Kindern befreundet und verbrachte oft Zeit in ihrem Zuhause.[3] Bei der Lektüre von Paivas Buch hätte er sich in Eunice Paiva „verliebt“. Marcelo Paiva hätte in seinem Buch entdeckt, „dass seine Mutter wirklich das Herz der Familie“ gewesen sei, so Salles.[6]
Sieben Jahre lang wurde an der Realisierung des Filmprojekts gearbeitet.[3] Salles verpflichtete für die Hauptrolle von Eunice Paiva die Schauspielerinnen Fernanda Montenegro und Fernanda Torres, die die Figur in verschiedenen Lebensabschnitten porträtieren und im wirklichen Leben Mutter und Tochter sind. Mit ihnen hatte er jeweils einzeln an seinen preisgekrönten Spielfilmen Mitternacht und Central Station (beide 1998) zusammengearbeitet. Für den Part des Rubens Paiva wurde Selton Mello besetzt, der erstmals unter der Regie von Salles agierte. Laut Hauptdarstellerin Torres war Eunice Paiva „eine Frau, die sich der Tragödie stellte, die das Melodram vermied. Sie wollte nicht mit ihrer Familie auf der Straße weinen. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder Opfer der Diktatur werden. Und sie beschloss dies zu tun, indem sie schwieg und lächelte“.[7]
Als Kameramann bei den Dreharbeiten fungierte Adrian Teijido, während Affonso Gonçalves und Warren Ellis sich für den Schnitt beziehungsweise die Filmmusik verantwortlich zeichneten. Während der Entstehung des Films kam es in Brasilien zur Präsidentschaft von Jair Bolsonaro (2019–2022), dessen Regierungszeit Salles an die dystopische Militärdiktatur in den 1970er-Jahren erinnerte, über die I’m Still Here handelt.[3]
„In dem Film ging es plötzlich nicht mehr um die 1970er-Jahre. Es ging um den Moment, was auf den Straßen geschah, während wir an dem Film arbeiteten. Und wenn ich sehe, was in Ungarn passiert, was demnächst vielleicht wieder in den USA passiert, was an so vielen verschiedenen Orten in der Welt passiert. Es ist eine Zeit der Angst, in der wir leben.“
Rezeption
BearbeitenVeröffentlichung
BearbeitenI’m Still Here wurde in die Programme von drei bedeutenden Herbst-Filmfestivals aufgenommen. Die Premiere erfolgte am 1. September 2024 beim 81. Filmfestival von Venedig, wo das Werk in den Hauptwettbewerb eingeladen worden war.[9] Das Premierenpublikum soll Salles’ Regiearbeit insgesamt 10 Minuten Applaus gespendet haben.[10] In Nordamerika wurde I’m Still Here erstmals im September 2024 beim 49. Toronto International Film Festival (TIFF) gezeigt. Dort war Salles’ Regiearbeit in die Sektion Special Presentations aufgenommen worden.[11] Im Oktober 2024 folgt eine Präsentation auf dem New York Film Festival.[2] I’m Still Here wurde in die Programme weiterer Filmfestivals aufgenommen, darunter von San Sebastián (September) sowie von São Paulo, Zürich, London und Chicago (jeweils Oktober).[12]
In Brasilien wurde der Film erstmals vom Cine Glauber Rocha in Salvador ins Programm genommen, wo I’m Still Here zwischen dem 19. und 25. September 2024 zweimal täglich gezeigt wird.[13] Ein landesweiter Kinostart ist ab 7. November 2024 geplant.[14]
Kritiken
BearbeitenVon den auf der Website Rotten Tomatoes nach der Premiere aufgeführten fast einem Dutzend Kritiken sind 94 Prozent positiv („fresh“) und führen zu einer Durchschnittswertung von 6,9 von 10 möglichen Punkten.[15] Auf der Website Metacritic erhielt I’m Still Here eine Bewertung von 80 von 100 möglichen Punkten, basierend auf mehr als einem halbes Dutzend ausgewerteter englischsprachiger Kritiken. Dies entspricht grundsätzlich positive Bewertungen („generally favorable“).[16]
Wolfgang Höbel (Spiegel Plus) zählte I’m Still Here zum Wettbewerbsbeitrag in Venedig, der am meisten Beifall verdient gehabt hätte. Es handle sich um „ein mitreißendes Politdrama“. Regisseur Walter Salles zeige „in altmodisch ruhigen, elegischen Einstellungen [...] den Alltag einer Familie aus der Oberschicht [...]“ und lasse „über sie das Unrecht eines Terrorregimes hereinbrechen“. Höbel bezeichnete die Leistung von Hauptdarstellerin Fernanda Torres als „anrührend“. „Die Gewalt bleibt [...] fast unsichtbar“, da die Handlung „konsequent aus der Sicht der Kinder und der Ehefrau“ erzählt werde.[17]
Die Redaktion der deutschen Kultursendung ttt – titel, thesen, temperamente um Siham El-Maimouni pries den Film wie Höbel als den „mit Abstand“ besten Beitrag im Wettbewerb von Venedig. Es handle sich um „ein aufwühlendes Drama, das weh“ tue, „ohne dass explizit Gewalt gezeigt“ werde. Dennoch seien „Willkür und Terror der Diktatur permanent greifbar“. Das Werk weise über die Geschichte der Familie Paiva hinaus. Aindou estou aqui – I’m still here sei „ein fantastischer Film, der gerade durch seine Auslassungen die Ungewissheit und das Grauen spürbar“ mache. Er erzähle, „wie Diktaturen Menschenleben und Gesellschaften zerstören“ würden. Auch sei Salles’ Regiearbeit „ein Porträt einer liebenden Frau und Mutter, die zur Aktivistin wurde“.[18]
Jan Küveler (Welt Online) zählte den Film gemeinsam mit Leurs enfants après eux, Queer und Stranger Eyes zu den Preis-Aspiranten von Venedig und räumte Hauptdarstellerin Torres Chancen auf den Gewinn des Darstellerpreises ein. I’m Still Here sei „dringlicher, menschlicher, besser [...] als die meisten seiner Konkurrenten“ sowie „anrührend, brillant, politisch wichtig“.[19]
Tim Caspar Boehme (die tageszeitung) bemerkte ähnlich wie Höbel, dass Salles „das Klima von ständiger Bedrohung fast wie ein Kammerspiel“ inszeniere. Der Film konzentriere „sich auf das Leben im repräsentativen Haus der Paivas am Strand von Rio, wo Eunice mit ihren fünf Kindern bemüht ist, diesen so viel Normalität zu ermöglichen wie die Umstände zulassen“.[20]
Auszeichnungen
BearbeitenFür I’m Still Here erhielt Walter Salles eine Einladung in den Wettbewerb um den Goldenen Löwen, den Hauptpreis des Filmfestivals von Venedig. Dort wurde das Werk von der Jury um die französische Schauspielerin Isabelle Huppert mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet.[21] Weitere gewonnene Preise im Rahmen des Festivals waren der SIGNIS Award des Katholischen Weltverbands für Kommunikation und der Green Drop Award des italienischen Grünen Kreuzes.[22]
Im September 2024 setzte sich Salles’ Regiearbeit einstimmig als brasilianischer Beitrag für die Kategorie Bester Internationaler Film der Oscarverleihung 2025 durch. Das Auswahlkomitee unter Leitung der brasilianischen Schauspielerin Bárbara Paz gab I’m Still Here den Vorzug vor Cidade; Campo, Levante von Lillah Halla, Motel Destino, Saudade fez Morada aqui Dentro von Haroldo Borges sowie Sem Coração von Nara Normande und Tião.[14]
Literatur
Bearbeiten- Marcelo Rubens Paiva: Ainda estou aqui. Editora Objectiva, Rio de Janeiro 2015, ISBN 978-85-7962-416-2.
Weblinks
Bearbeiten- I’m Still Here bei IMDb
- Profil bei tiff.net (englisch)
- Ainda estou aqui im Programm des Filmfestivals von Venedig (englisch, italienisch)
- Profil bei allocine.fr (französisch)
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ I'm Still Here. In: tiff.net (abgerufen am 31. August 2024).
- ↑ a b I'm Still Here. In: filmlinc.org (abgerufen am 31. August 2024).
- ↑ a b c d Ainda estou aqui (I’m still here). In: labiennale.org (abgerufen am 31. August 2024).
- ↑ Je suis encore là. In: allocine.fr (abgerufen am 11. April 2024).
- ↑ "I’m still here": Walter Salles bewegendes Drama. In: ardmediathek.de, 9. September 2024 (4:25 Min ff.; abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ "I’m still here": Walter Salles bewegendes Drama. In: ardmediathek.de, 9. September 2024 (2:35 Min ff.; abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ "I’m still here": Walter Salles bewegendes Drama. In: ardmediathek.de, 9. September 2024 (3:40 min ff.; abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ "I’m still here": Walter Salles bewegendes Drama. In: ardmediathek.de, 9. September 2024 (4:43 Min ff.; abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ Ryan Lattanzio: Venice: ‘Maria,’ ‘Queer,’ and ‘Joker: Folie à Deux’ Will Premiere in Competition (Full Lineup). In: indiewire.com, 23. Juli 2024 (abgerufen am 23. Juli 2024).
- ↑ Nancy Tartaglione, Melanie Goodfellow: ‘I’m Still Here’ Political Drama Earns 10-Minute Ovation At Venice Film Festival Premiere. In: deadline.com, 1. September 2024 (abgerufen am 7. September 2024).
- ↑ TIFF unveils its star-studded lineup of Galas and Special Presentations. In: tiff.net, 22. Juli 2024 (abgerufen am 22. Juli 2024).
- ↑ Ainda Estou Aqui – Informationen zur Veröffentlichung. In: imdb.com (abgerufen am 24. September 2024).
- ↑ 'Ainda Estou Aqui' terá estreia nacional em Salvador, no Glauber Rocha. In: correio24horas.com.br, 16. September 2024 (abgerufen am 24. September 2024).
- ↑ a b ‘Ainda estou aqui’ é selecionado do Brasil para tentar vaga em filme internacional do Oscar 2025. In: g1.globo.com, 23. September 2024 (abgerufen am 24. September 2024).
- ↑ I’m Still Here. In: Rotten Tomatoes. Fandango, abgerufen am 22. September 2024 (englisch).
- ↑ I’m Still Here. In: Metacritic. Abgerufen am 7. September 2024 (englisch).
- ↑ Wolfgang Höbel: Welche Filme sich lohnen – und welche nicht. In: Spiegel Plus, 7. September 2024 (abgerufen lizenzpflichtiger Pressedatenbank Nexis Uni).
- ↑ "I’m still here": Walter Salles bewegendes Drama. In: ardmediathek.de, 9. September 2024 (abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ Jan Küveler: Die Preise, wenn alles mit rechten Dingen zugeht. In: welt.de, 7. September 2024 (abgerufen am 7. September 2024).
- ↑ Tim Caspar Boehme: Viel Gegenwart der Vergangenheit. In: die tageszeitung, 3. September 2024, S. 16.
- ↑ Official awards of the 81st Venice International Film Festival. In: labiennale.org, 7. September 2024 (abgerufen am 22. September 2024).
- ↑ Collateral awards of the 81st Venice Film Festival. In: labiennale.org, 6. September 2024 (abgerufen am 22. September 2024).