Kanonische Transformation

Transformation des Phasenraums

In der klassischen Mechanik bezeichnet man eine aktive[1] Transformation des Phasenraums als kanonisch, wenn sie wesentliche Aspekte der Dynamik invariant lässt. Die Invarianz der hamiltonschen Gleichungen ist dabei ein notwendiges, jedoch nicht hinreichendes Kriterium.[2] Notwendig und hinreichend ist die Invarianz der Poisson-Klammern, ein weiteres notwendiges Kriterium ist die Invarianz des Phasenraumvolumens. Ziel dabei ist, die neue Hamilton-Funktion möglichst zu vereinfachen, im Idealfall sogar unabhängig von einer oder mehreren Variablen zu machen. In dieser Funktion sind kanonische Transformationen der Ausgangspunkt zum Hamilton-Jacobi-Formalismus. Kanonische Transformationen können aus sogenannten erzeugenden Funktionen konstruiert werden.

Wichtige Beispiele kanonischer Transformationen sind Transformationen des Phasenraums, die von Transformationen des Konfigurationsraums induziert werden – sogenannte Punkttransformationen –, sowie der kanonische Fluss bei festgehaltener Zeitkonstanten, also Transformationen des Phasenraums, die durch Fortschreiten der Dynamik um eine konstante Zeitdifferenz entstehen. Die erzeugende Funktion in letzterem Fall ist die Hamiltonsche Prinzipalfunktion und entspricht gerade der Wirkung zwischen den beiden Zeitpunkten, aufgefasst als Funktion der alten und neuen Koordinaten.

Zeitunabhängiger Fall

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Im Folgenden wird zunächst nur der einfachere zeitunabhängige Fall behandelt. Der zeitabhängige Fall wird in einem eigenen Abschnitt dargestellt. Ferner sind folgende Ausführungen als lokale Beschreibung der Transformationen in Bündelkarten anzusehen. Für das Verständnis der globalen Zusammenhänge ist die Verwendung des Differentialformenkalküls unerlässlich.[3] Sie werden ebenfalls in einem eigenen Abschnitt dargestellt.

Definition

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Man betrachte ein Hamiltonsches System mit   Freiheitsgraden und der Hamilton-Funktion  , die von den Koordinaten   und Impulsen   abhängt. Die kanonischen Gleichungen (hamiltonsche Bewegungsgleichungen) lauten somit:

 

wobei im Folgenden für die Argumente   der Übersichtlichkeit halber kurz   geschrieben wird. Gesucht sind Transformationen  , die die kanonischen Gleichungen invariant lassen, d. h., durch Substitution   in der Hamilton-Funktion   soll dieselbe Dynamik beschrieben werden:

 
 
 
 

Die Gültigkeit der Hamiltonschen Gleichungen ist äquivalent zum Hamiltonschen Extremalprinzip

 

wobei die   und   unabhängig voneinander variiert werden. Für die gleichzeitige Gültigkeit dieses und des äquivalenten Variationsprinzips für das transformierte System ist es hinreichend, dass sich die Integranden nur bis auf einen konstanten Faktor (d. h. bis auf eine Skalentransformation) und eine totale Zeitableitung unterscheiden:

 

Kanonisch (eigentlich lokal kanonisch) heißen gerade die Transformationen, die obige Gleichung mit   erfüllen[4][5] (solche mit anderen Koeffizienten werden auch als extended canonical transformations bezeichnet und sind immer als Komposition einer kanonischen Transformation und einer Skalentransformation darstellbar).[5] Für diese gilt:

 

Andere Transformationen, die auch die kanonische Form der Bewegungsgleichungen invariant lassen (denkbar wären auch solche, die eine neue Hamilton-Funktion einführen, wie es ohnehin im zeitabhängigen Fall geschieht), haben den Nachteil, dass sie sich nicht aus einer erzeugenden Funktion herleiten lassen und wichtige Resultate wie z. B. der Satz von Liouville oder die Invarianz der Poisson-Klammern nicht gelten. Beispielsweise lässt auch die Transformation   die kanonischen Gleichungen invariant, wird aber nicht zu den kanonischen Transformationen gezählt.

Poisson-Klammern

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Die Poisson-Klammer glatter Funktionen   und   auf dem Phasenraum bzgl.   und   ist durch

 

definiert. Die Poisson-Klammern bezüglich alter und neuer Koordinaten stimmen überein, es gilt also

 

genau dann, wenn die Transformation   kanonisch ist (streng genommen, sollten die Funktionen auf der rechten Seite als pushforward   aufgefasst werden). Äquivalent ist ebenfalls die folgende Beziehung zwischen den fundamentalen Poisson-Klammern:

 ,

dabei ist   das Kronecker-Delta. Diese Eigenschaft wird auch gelegentlich zur Definition kanonischer Transformationen verwendet.

Erzeugende Funktionen

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Kanonische Transformationen können durch erzeugende Funktionen (kurz auch Erzeugende) gefunden und konstruiert werden.

Die Transformation   ist genau dann kanonisch, wenn

 

Dabei ist   eine glatte Funktion auf dem Phasenraum und   ihr Differential. Die Funktionalmatrix der Transformation hat die Gestalt

 

Von den vier Teilmatrizen können einige singulär sein. Unter ihnen sind jedoch mindestens zwei reguläre, da für die Determinante einer Blockmatrix

 

gilt. Für das Folgende sei zunächst angenommen, dass   gilt. Dann kann   substituiert werden und man erhält mit  :

 

Falls  , so ist gewiss  . Dann kann   substituiert werden. Es ist  . Das heißt:

 

Es ergibt sich:

 

Von den Koordinaten   kann für jeden Index   eine ausgewählt werden, um zusammen mit den   eine Klasse unabhängiger Variablen einer erzeugenden Funktion zu liefern. Demnach gibt es für ein Hamiltonsches System von   Freiheitsgraden   Klassen erzeugender Funktionen. Sie gehen jeweils durch eine Legendre-Transformation ineinander über.

Auf analoge Weise können erzeugende Funktionen der Klassen   und   gewählt werden. Die Transformationsregeln für die vier gängigen Klassen erzeugender Funktionen lauten:[6]

Erzeugende Funktion Kanonische Transformation
   
   
   
   

In der Literatur wird manchmal   und manchmal eine der   als kanonische Transformation bezeichnet,[6] die beiden Begriffe stimmen für die Klasse   überein.

Eine wichtige Eigenschaft erzeugender Funktionen der Klasse   ist ihre Additivität bei Hintereinanderausführung kanonischer Transformationen. Gilt etwa

 
 

so gilt auch

 

Satz von Liouville

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Kanonische Transformationen lassen das Phasenraumvolumen   invariant.

Im geometrischen Formalismus wird das Phasenraumvolumen durch die Differentialform   beschrieben. Da das Dachprodukt natürlich ist, gilt   und der Satz von Liouville ist ohne großen Aufwand bewiesen.

Beispiele

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Im Folgenden sind einige kanonische Transformationen aufgelistet:

  • Die identische Transformation   ist trivialerweise kanonisch mit der erzeugenden Funktion  .
  • Die Transformation   ist nicht kanonisch. Jedoch ist   kanonisch.
  • Punkttransformationen des Konfigurationsraums   induzieren kanonische Transformationen, wenn die Impulse gemäß   transformiert werden (es handelt sich um das Transformationsverhalten von Kotangentialvektoren). Als erzeugende Funktion kann   verwendet werden.
  • Die Zeitentwicklung induziert eine lokale kanonische Transformation: Es sei   fest gewählt (falls die hamiltonschen Gleichungen keinen vollständigen Fluss erzeugen, muss   hinreichend klein gewählt werden). Zu   sei   eine Integralkurve der hamiltonschen Gleichungen mit   und es sei  . Die Transformation   hat die Erzeugende
 
die Hamiltonsche Prinzipalfunktion oder Wirkungsfunktion.[7]
  • Lineare Transformationen sind genau dann kanonisch, wenn ihre Matrizen symplektisch sind. Es sei   zusammengefasst. Dann ist durch   genau dann eine kanonische Transformation gegeben, falls  ,  , wobei   die Einheitsmatrix bezeichnet. Symplektische Matrizen haben immer die Determinante 1. Ferner ist   genau dann Eigenwert von  , wenn   Eigenwerte sind, und die entsprechenden Eigenräume sind isomorph.

Globale kanonische Transformationen

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Der Konfigurationsraum eines mechanischen Systems mit   Freiheitsgraden wird durch eine glatte  -dimensionale Mannigfaltigkeit   modelliert. Die Lagrange-Funktion ist eine Funktion der verallgemeinerten Koordinaten und Geschwindigkeiten, also eine glatte Funktion auf dem Tangentialbündel  . Durch eine Legendre-Transformation wird ein Isomorphismus zwischen dem Tangentialbündel und dem Kotangentialbündel hergestellt gemäß

 

Dabei wird sich hier und im Folgenden, wenn von Koordinaten   gesprochen wird, immer auf Bündelkarten bezogen, das heißt, die Karten sind von der Form

 
 

wobei   eine Karte von   um   ist,   definiert ist mit einer den Tangentialvektor   repräsentierenden Kurve  , und mit einem hochgestellten T die duale Abbildung bezeichnet wird. Diese Kartenwahl hat den Vorteil, dass die natürliche Paarung eines Tangential- und eines Kotangentialvektors mit dem euklidischen Skalarprodukt übereinstimmt   (hier wird die Einsteinsche Summenkonvention verwendet).

Auf dem Kotangentialbündel gibt es einen natürlichen Zusammenhang zwischen Elementen   und Tangentialvektoren  :  . Dieser Zusammenhang soll nun auf Tangentialvektoren des Kotangentialbündels erweitert werden: Die natürliche Projektion   besitzt die Ableitung  . Die für   durch   definierte Differential-1-Form auf   heißt kanonische 1-Form, in einer Bündelkarte hat sie die Form  . Ihr negatives Differential   heißt kanonische 2-Form (sie macht das Kotangentialbündel zu einer symplektischen Mannigfaltigkeit).

Kanonische Transformationen sind Diffeomorphismen  , die die kanonische 2-Form invariant lassen, d. h.   (allgemeiner bezeichnet man solche Abbildungen zwischen symplektischen Mannigfaltigkeiten als Symplektomorphismus, sie stellen also eine Verallgemeinerung kanonischer Transformationen dar). Entsprechende lokale Diffeomorphismen heißen lokale kanonische Transformation. Somit ist  , d. h., nach dem Lemma von Poincaré ist   lokal (auf sternförmigen Gebieten auch global) exakt:

 
 

Hieraus folgt insbesondere, dass erzeugende Funktionen eine kanonische Transformation nur lokal beschreiben müssen.

Die kanonische 2-Form definiert auch einen Zusammenhang   zwischen 1-Formen und Vektorfeldern gemäß

 

Insbesondere wird   als Hamiltonsches Vektorfeld bezeichnet (entsprechende Definitionen macht man für beliebige glatte Funktionen), es erzeugt gerade den kanonischen Fluss. Die Poisson-Klammern lassen sich koordinatenfrei durch

 

definieren. Auf diese Weise wird der Zusammenhang zwischen kanonischen Transformationen und den Poisson-Klammern besonders deutlich. Zunächst wird gezeigt, dass sich hamiltonsche Vektorfelder natürlich transformieren. Für beliebige Vektorfelder   und   gilt:

 
 

Jedoch ist auch   und somit

 

Nun ist aber für glatte Funktionen  

 
 

Die beiden Ausdrücke stimmen also genau dann überein, wenn

 

wenn also   eine kanonische Transformation ist.

Zeitabhängiger und relativistischer Fall

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Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Zeit in den Formalismus zu integrieren.[8][9] Vor allem auch für den relativistischen Fall ist es besonders günstig, den Konfigurationsraum um eine Zeitvariable zum sogenannten erweiterten Konfigurationsraum zu erweitern.[8] Der erweiterte Phasenraum enthält dann zwei weitere Variable, die der Zeit entsprechende Impulsvariable wird üblicherweise mit   bezeichnet. Insofern die Hamiltonfunktion   im nichtrelativischen Fall die Energie ausdrückt, kann die neue Hamiltonfunktion

 

eingeführt werden, die zwar keine physikalische Bedeutung hat, jedoch die korrekten Bewegungsgleichungen liefert. Die kanonischen Formen werden ohne Änderung definiert und nehmen in Koordinaten die Gestalten   und   an. Das hamiltonsche Vektorfeld   erzeugt dann den Fluss:

 
 

Außerdem ist   konstant entlang einer Integralkurve, sodass physikalisch nur der Fall   relevant ist und   mit   sowie   mit   identifiziert werden kann.

Für den relativistischen Fall sind auch kanonische Transformationen relevant, die die Zeitvariable ändern. Für den nichtrelativistischen Fall sind solche Transformationen uninteressant. Im Folgenden werden die alten Koordinaten mit einem Querstrich gekennzeichnet. Es gelte nun

 

Es wird angenommen, dass die neuen Koordinaten und die alten Impulse als Koordinaten verwendet werden können. Dann setzt man   ein und erhält:

 

Um sicherzustellen, dass   transformiert wird, kann   verwendet werden. Sodann lauten die Transformationsregeln:

 
 

Hierbei wird   invariant gelassen, die Hamilton-Funktion   im Allgemeinen also verändert. Falls   die Hamilton-Jacobi-Gleichung erfüllt, d. h.

 

so folgt   und das System wird ins Gleichgewicht transformiert.

Symplektische Struktur

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Die Funktionalmatrizen kanonischer Transformationen

 

bilden eine symplektische Gruppe, besitzen also die Eigenschaft

 

mit

 

und der  -Einheitsmatrix  .

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Walter Thirring: Classical Mathematical Physics. New York 1997, S. 90.
  2. Vladimir Arnold: Mathematical Methods of Classical Mechanics. New York 1989, S. 241.
  3. Vladimir Arnold: Mathematical Methods of Classical Mechanics. New York 1989, S. 163.
  4. Vladimir Arnold: Mathematical Methods of Classical Mechanics. New York 1989, S. 241.
  5. a b Herbert Goldstein: Classical Mechanics. Addison-Wesley 2000, S. 371.
  6. a b Herbert Goldstein: Classical Mechanics. Addison-Wesley 2000, S. 373.
  7. Walter Thirring: Classical Mathematical Physics. Berlin 1901, S. 99.
  8. a b Walter Thirring: Classical Mathematical Physics. New York 1997, S. 101.
  9. Vladimir Arnold: Mathematical Methods of Classical Mechanics. New York 1997, S. 236.