Liven
Die Liven (seltener auch Livonen oder Livonier) sind mit etwa 230 Angehörigen ein nahezu ausgestorbenes Volk in Lettland. Sie leben an der Küste des nördlichen Kurlands, hauptsächlich im Ort Kolka. Livland trägt seinen Namen nach den schon im Mittelalter ausgestorbenen östlichen Liven (Gauja-Liven). Heute sprechen die Liven lettisch; die livische Sprache, die zur Familie der finno-ugrischen Sprachen gehörte und näher mit dem Estnischen verwandt war, ist im 21. Jahrhundert ausgestorben.
Bezeichnung
BearbeitenDie Eigenbezeichnung der Liven war in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg durch zwei verschiedene Namen geprägt. Während sich die Westliven, angesiedelt im Küstenbereich der heutigen Landkreise Talsi und Ventspils, als rāndalizt (dt. Küstenbewohner) bezeichneten, nannten sich die in den Landkreisen Riga und Limbaži angesiedelten Liven kalmied (dt. Fischer). Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen jedoch auch die vermutlich auf Fremdeinflüsse geprägten Bezeichnungen līvõd und līvlizt auf. Die Etymologie der heute verwendeten Bezeichnung als Liven ist demnach wahrscheinlich auf die im 12. und 13. Jahrhundert begonnenen Fremdherrschaften zurückzuführen.
Geschichte
BearbeitenErstmals namentlich angeführt wurden die Liven in der Nestorchronik (12. Jahrhundert) und auch in der Livländischen Chronik Heinrichs von Lettland (13. Jahrhundert). Erwähnt werden hier zunächst Siedlungen an den Küstenbereichen der östlichen und westlichen Rigaer Bucht. Über livische Siedlungen im nördlichen Kurland wurde erstmals im 14. Jahrhundert berichtet. Die Zahl der Liven wird für diese Zeit auf 15.000 bis 28.000 geschätzt. Das Vorkommen livischer Stämme reicht nach Ansicht der Wissenschaft bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurück.
Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert war die historische Landschaft Livland, das neben dem relativ kleinen Siedlungsraum der Liven vor allem estnische, kurische und lettische Gebiete einschloss, eine wirtschaftlich bedeutendsame Region, deren Holz- und Hanfexporte zu Englands Aufstieg zur Seemacht in bedeutendem Umfang beitrugen. Bis 1561 war der Ordensritterstaat Kern der Livländischen Konföderation. Eine der vier Standesvereinigungen baltischer Adliger trägt noch heute den Namen Livländische Ritterschaft. Livland wurde schließlich zwischen Estland und Lettland aufgeteilt.
Einer der ersten, der die Kultur der Liven beschrieb, war Carl Johann Wilhelm Julius Hillner (1813–1868), der von 1836 bis 1849 Pastor in Rinda (zwischen Ventspils und Dundaga) war. 1847 erschien sein Buch Die Liven an der Nordküste von Kurland.[1]
2006 gab es noch 14 Dörfer und Siedlungen der Liven. Bei der Volkszählung im Jahre 2000 gaben 180 Personen an, Liven zu sein, bei der Volkszählung 2011 waren es 250.[2]
In Mazirbe steht ein livisches Kulturhaus mit der grün-weiß-blauen Flagge. Seit 1989 feiern die Liven am ersten Sonntag im August das Ende der Unterdrückung und des Assimilationszwanges nationaler Minderheiten in der ehemaligen Sowjetunion.
Sprache
BearbeitenDie Sprache der Liven heißt Livisch und gilt seit 2013 als ausgestorben.
Literatur
BearbeitenDie livische Sprache wurde seit ihren Anfängen nur sehr begrenzt schriftlich weitergegeben. Die ersten schriftlichen Erzeugnisse waren neben Wörterlisten aus dem 17. Jahrhundert Übersetzungen biblischer Texte. Eine erste greifbare Übersetzung datiert auf das Jahr 1789: ein livisches Vater Unser. Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Übersetzung des Matthäusevangeliums erhalten.
Längere Texte in epischer Darbietung beschränken sich ebenso wie längere Gebrauchsprosa auf eine geringe Anzahl zufälliger Erscheinungen. Lyrische Texte stellen, obwohl ebenfalls nur in geringer Zahl vorhanden, den größten Teil literarischen Schrifttums dar. Es wird spekuliert, dass Gründe hierfür in dem zeitlich geringeren Aufwand und der Möglichkeit musikalischer Umsetzung liegen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lassen sich Bestrebungen zum Zusammentragen dieser Texte zurückverfolgen. Nach anfänglich gescheiterten Versuchen wurde 1998 in Riga eine Anthologie unter dem Titel Ma akūb sīnda vizzõ, tūrska publiziert.
Die Zahl livischer Gedichte wird auf 300 geschätzt.
Symbole
BearbeitenDie Symbolik, welche durch Flagge und Hymne dargestellt wird, ist in Bezug auf die Liven weit mehr als ein Ausdruck von National- oder Regionalbewusstsein. Die Flagge erzählt eine Geschichte, mit der sich jeder Live identifizieren kann (oder zumindest einst konnte), die Hymne spricht von einer Liebe, die sich in jedem einzelnen Wort widerspiegelt.
Livische Flagge
BearbeitenDie livische Flagge besteht aus den Farben Grün, Weiß und Blau, welche im Verhältnis 2:1:2 stehen. Blau steht hierbei für das Meer, Weiß für den Strand und Grün für die Wälder. Man sagt, die Flagge beschreibe den Blick von der See aus auf das Festland: Der Fischer sieht zunächst das blaue Meer, während der Blick dann zu den weißen Stränden mit den dahinter liegenden grünen Wäldern führt.
Die Hymne der Liven
BearbeitenDer Text der livischen Hymne, Min izāmō, wurde vom kurländischen Dichter Kōrli Stalte verfasst. Er stellt die Symbiose der Liven mit der See dar. Die von Fredrik Pacius stammende Melodie liegt auch der finnischen und der estnischen Nationalhymne zugrunde.
Literatur
Bearbeiten- Sonja Birli: Livland, Liven. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 18, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2001, ISBN 3-11-016950-9, S. 533–535.
- Wilhelm Hillner: Die Liven an der Nordküste von Kurland. St. Petersburg und Leipzig, 1847
Weblinks
Bearbeiten- Dreisprachige estnisch-russisch-englische Seite über die Liven
- Lettisch-Livisch-Englisches Wörterbuch (PDF; Link kaputt)
- Weiterführende Links zum Livischen (kaputt)
- Informationen zur livischen Sprache, Geschichte und Kultur (auf Englisch)
- Über die Liven (auf Estnisch)
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Māra Kraule, Michael Gallmeister, Gedimins Trulevics: Carl Johann Wilhelm Julius Hillner – der Gönner der Liven in Rinda (1813–1868). In: Ilze Krokša, Aina Balaško (Hg.): Vācu kultūra Latvijā. Ieskats vācu-latviešu novadu kultūras un vācu biedrību vēsturē = Deutsche Kultur in Lettland. Einblick in die Geschichte der deutsch-lettischen Regionskulturen und die deutsche Vereinsgeschichte. Latvijas Vācu Savienība, Riga 2009, ISBN 978-9984-39-832-7, S. 67.
- ↑ Aldis Purs, Andrejs Plakans: Historical dictionary of Latvia. Rowman & Littlefield, Lanham, 3. Aufl. 2017, ISBN 978-1-5381-0220-6, S. 370.