Eine marxistische Literaturtheorie versucht, die Entstehung, Form und Wirkung literarischer Werke mit ihrer Gesellschaftsgeschichte zu verbinden. Der Sammelbegriff fasst diejenigen Literaturtheorien zusammen, welche von den Grundlagen der Geschichts- und Gesellschaftstheorie des Marxismus ausgehen und von dort aus ihre spezifischen literaturwissenschaftlichen Ergänzungen entwickeln. Eine undogmatische Anknüpfung an Karl Marx ist hier gefordert, da er zwar in einigen seiner Texte Ansätze einer historisch-materialistischen Ideen- und Kulturanalyse skizziert,[1] aber sich kulturellen Denk- und Praxisformen nicht hauptsächlich gewidmet hat.

Marxistische Literaturtheorien müssen daher die fehlenden Vemittlungsglieder zwischen der Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Basis und der Analyse der literarischen Überbau-Formen selbst entwickeln und bieten hierfür verschiedene Ansätze und Schwerpunkte an. Sie zählen damit zu den kontextorientierten Literaturtheorien, obgleich der gesellschaftliche Kontext von Literatur auch in theoretischen Ansätzen berücksichtigt wird, die sich nicht als marxistisch verstehen.

Bedeutende marxistische Literaturtheorien

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Bereits vor der russischen Revolution verfasste Leo Trotzki (1879–1940) Aufsätze zur sozialistischen Literatur, die er 1922 überarbeitete und 1923 in einem Buch zusammenfasste. Später schufen neben anderen Georg Lukács (1885–1971), Terry Eagleton (geb. 1943), Pierre Bourdieu (1930–2002) und Christian Enzensberger (1931–2009) eigene Ansätze einer marxistischen Literaturtheorie. Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl anderer marxistischer Ansätze zur Literaturtheorie, beispielsweise in der Frankfurter Schule, den Schriften von Alexander Woronski oder inspiriert durch den (meist französischen) Strukturalismus und Poststrukturalismus.

Literatur als Widerspiegelung

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Georg Lukács beschäftigt sich in seiner Theorie damit, wie Literatur in den sozialen, ökonomischen und historischen Kontext ihrer Zeit eingebettet ist. Eine der zentralen Fragen ist somit, ob bzw. wie stark die Ideale und Werte einer Gesellschaft Einfluss auf die Literatur nehmen. Ebenso bedeutsam ist die Frage, wie stark die Literatur Einfluss auf die Gesellschaft nimmt. Literatur wird folglich als eine Art Spiegel betrachtet, welcher die Gesellschaft reflektiert. In ihrer reflexiven Funktion verdeutlicht Literatur den Klassenkampf verschiedener sozialer Gruppen; sie stellt somit den Überbau einer gegebenen Basis (nämlich der Gesellschaft) dar und reflektiert und verändert diese stetig. Diese veränderte Gesellschaft wird nun wiederum in der Literatur reflektiert, dies führt zu einem dialektischen Prozess der Selbsterneuerung und Selbstverbesserung. Der dialektische Prozess findet dann ein Ende, wenn die perfekte Gesellschaft entstanden ist. Im Fall des Marxismus wäre die perfekte Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaftsform.

Literatur als Eingriff in die Gesellschaft

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Die ideologiekritische Literaturtheorie (Critique of Ideology) geht auf Terry Eagleton zurück, der als bedeutendster marxistischer Literaturkritiker Großbritanniens gilt. Ansätze französischer Theoretiker wie Louis Althusser und Roland Barthes aufgreifend, versucht er mit seinem Ansatz zu ergründen, wie Literatur soziale Gegensätze zwischen ökonomischen Gruppen offenbart. Nach seinem Fürsinnen wird die Gesellschaft nicht von der Literatur reflektiert, vielmehr versucht Literatur, durch ideologische Einflussnahme den Effekt von Realität zu erzeugen. In diesem Punkt ist seine Theorie konträr zu jener von Lukács: Literatur ist nicht Spiegel, sondern Steuermann der Gesellschaft. Literatur kann Gesellschaften somit in gewisse Richtungen lenken. In dem 2004 erschienenen Werk After Theory beklagt Eagleton die Lage der gegenwärtigen Kultur- und Literaturtheorie und deren Bastardisierung, als die er die meisten zeitgenössischen interdisziplinären Studien von Kultur und Literatur ansieht – obwohl er bei wichtigen Themen eine interdisziplinäre Behandlung durchaus für fruchtbar und sinnvoll hält.

Literatur als Kompensation

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Nach Christian Enzensberger hat Literatur eine kompensatorische Funktion bezüglich der Mängel einer sinndefizitären Gesellschaft. Der Zusammenhang der Literatur mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist nicht der der Abbildung, sondern der der Sinnberuhigung, der Bedürfnisbefriedigung, der Veränderung lähmenden Kompensation. Enzensbergers Theorie wendet sich in den beiden Kernpunkten (Widerspiegelung, Wirkung) gegen Lukacs und Eagleton. Nach Enzensberger bewirken gesellschaftliche Mängel eine Erfahrung von Sinnmangel. Diesem Sinndefizit stehe ein existentielles menschliches Sinnbedürfnis gegenüber, das Literatur kompensatorisch befriedige, indem sie in die Sinnlücke eintrete und diese fülle. Aus dieser Auffassung von „Literatur als Kompensation“ ergeben sich zwei Folgerungen: Literatur sei immer „fiktive Wirklichkeitskonstruktion“ und in diesem Sinn keine reine Abbildung von Wirklichkeit; Literatur habe außerdem keine gesellschaftsverändernde Kraft, sondern bewirke das Gegenteil: alle Literatur absorbiere jegliche kritische Aktivität und trage damit per se zur Stabilisierung des Bestehenden bei. Mit der psychologisch verstandenen Kompensation, dem falschen Ausgleich, impliziert Enzensberger die Unmöglichkeit, dass Literatur eine gegebene Situation oder Gesellschaft transzendiert: Literatur überschreibe nur das schlechte Bestehende mit Sinn, sie müsse die Wirklichkeit verschönern, sie falsch abbilden: daher „lügt Literatur, sobald sie etwas sagt.“ In dieser Hermetik der Verwerfung, dem Standpunkt einer radikalen Avantgarde, wird alle Literatur zur Chiffre der Ausbeutung und Enzensbergers Position zur abstrakten Negation der Kultur.

Literatur als Feldarbeit

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Pierre Bourdieu (1930–2002) untersucht in seinem kunsttheoretischen Hauptwerk Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes die sozialen Voraussetzungen der Entstehung von Literatur. Den für eine marxistische Theorie grundlegenden Begriff der „gesellschaftlichen Basis“ fächert er auf in den eines „historisch-sozialen Feldes“, in welchem die Künstler im Zusammenwirken mit den Umständen ihre Werke produzieren und vermarkten. Er rekonstruiert beispielsweise die Entstehung des künstlerischen Milieus und des Lebensstils der Bohème im 19. Jahrhundert in Frankreich, damit die historisch-sozialen Bedingungen ihrer ästhetischen Praxis, ihre Diskurse und ihre Verbindungen zum Kunstmarkt, der sie wiederum mit der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft, gegen die sie sich in Opposition entwickelt hat. Bourdieu argumentiert vor allem gegen die Illusion, Literatur und Kunst entstünden ohne gesellschaftliche Voraussetzungen und damit in einem quasi magischen Schöpfungsakt durch einen isoliert-genialen Künstler. Im literarischen Feld bestimmten eine Reihe von Regeln die Produktion:

  • In der Geschichte des literarisch-künstlerischen Feldes entstehe ein expandierender Raum der ästhetischen Möglichkeiten, der Richtungen und „Schulen“, die sich den einzelnen Produzenten als ein Vorgegebenes aufzwingen.
  • Das historische Erbe präge zusammen mit der individuellen Geschichte der Produzenten, ihrer Herkunft und dem Einfluss ihres Umfeldes die Entscheidungen, bestimmte ästhetische Möglichkeiten des Feldes in ihrem Habitus und in neuen Werken zu verwirklichen.
  • Das Ganze der miteinander korrespondierenden Neuerungen verändere die ästhetischen Schwerpunkte des Feldes und dränge mit dieser Dynamik jede bisherige Avantgarde in die symbolische Vergangenheit.
  • Mit der allmählichen Bedeutungsverschiebung vom Inhalt zur Form, vom Sujet zum Ausdruck werde ein wachsender Teil der künstlerischen Werke durch Referenzen auf nur noch interne Positionen des Feldes bestimmt, die von Produzenten und Rezipienten einen geschichtlichen Überblick, eine Historisierung ihres ästhetischen Urteils verlangen.
  • In der literarisch-künstlerischen Produktion erzeugten mehrere strategische Funktionen des Feldes den objektiven Eindruck, es nicht mit einem Feld und nicht mit seiner sozialen Geschichte zu tun zu haben.

Siehe auch

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Literatur

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  • Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, 1. Auflage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, 551 Seiten, mit Personen- und Begriffsregister, ISBN 3-518-58264-X. Erstausgabe auf Französisch schon 1992.
  • Klaus-Michael Bogdal, Burkhardt Lindner, Gerhard Plumpe (Hrsg.): Arbeitsfeld Materialistische Literaturtheorie. Beiträge zu ihrer Gegenstandsbestimmung, Frankfurt/M.: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1975.
  • John A. Cuddon: A Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, 4. Aufl. Oxford: Blackwell 1998 (zuerst 1977 publiziert)
  • Terry Eagleton: Marxism and Literary Criticism, London: Methuen 1976
  • Fritz J. Raddatz: Revolte und Melancholie. Essays zur Literaturtheorie, Hamburg: Albrecht Knaus 1979 (Neuausgabe Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1982; Neuausgabe Reinbek: Rowohlt 1990)
  • Michael Ryan: Literary Theory: A Practical Introduction, Malden, Massachusetts: Blackwell 1999
  • Heinz Schlaffer (Hrsg.): Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Bestimmung ihrer Grenzen (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften; 4), Stuttgart: Metzler 1974
  • Sebastian Schuller: Realismus des Kapitals. Marxistische Literaturtheorie im Zeitalter des globalen Kapitalismus, Leiden: Wilhelm Fink Verlag, 2021, ISBN 978-3-7705-6644-0.
  • Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Berlin 1994 (Original 1923).

Einzelnachweise

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  1. Vergleiche etwa die Feuerbach-Thesen von 1845.