Massaker von Celle

Celler Bürger machten 1945 jagt auf geflohene KZ-Häftlinge und töteten die meisten von ihnen.

Das Massaker von Celle, euphemistisch „Celler Hasenjagd“ genannt,[1][2] war ein Endphaseverbrechen. Ihm fielen am 8. April 1945 bei Celle mindestens 170 KZ-Häftlinge zum Opfer.[3] Ein Räumungstransport war bombardiert worden, wonach die überlebenden Häftlinge zunächst in Freiheit gelangten, danach verfolgt und schließlich ermordet wurden.

Räumungstransport

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Bei Annäherung der Alliierten am 7. April 1945 stellte die SS im Außenlager Salzgitter-Drütte einen Räumungstransport mit Zielort KZ Bergen-Belsen zusammen. Dort wurden auch Zwangsarbeiter eines Lagers aus Salzgitter-Bad zusammengezogen, und es kamen weitere Häftlinge aus dem KZ-Außenlager Holzen (bei Eschershausen) hinzu. In der Nacht zum 8. April wurden 3800[4] bis 4500 Männer, Frauen und Jugendliche mit einem Zug abtransportiert. Der Zug erreichte am Nachmittag den Celler Güterbahnhof.

Bevor die Fahrt am Abend planmäßig fortgesetzt werden konnte, setzte ein schwerer Luftangriff auf Celle ein, bei dem auch der Zug getroffen wurde. Nach einigen Angaben kamen bei diesem Luftangriff über die Hälfte der Häftlinge ums Leben; andere halten eine Zahl zwischen 400 und 1000 für wahrscheinlicher.[5]

Jagd auf die Häftlinge

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Überlebende Häftlinge flohen in das nahegelegene Waldgebiet Neustädter Holz oder tauchten im Stadtbereich auf. Auf der Suche nach Schutz, Nahrungsmitteln und Zivilkleidung drangen einige der Flüchtlinge in Läden und Privathäuser ein, deren Bewohner sich im Luftschutzkeller aufhielten. Während manche zunächst ungestört blieben oder man sie gewähren ließ, wurden andere von Einheimischen umgehend vertrieben.

Die Überlebenden des SS-Begleitkommandos bewachten eingefangene Häftlinge und nahmen vermutlich nicht an der folgenden Durchkämmungsaktion teil.[6] Eine Wehrmachtskompanie sowie eine in der Nähe stationierte SS-Einheit verstärkten die örtliche Polizei. Die gesammelten Einsatzkräfte erhielten Befehl, die Häftlinge festzunehmen. Wer plünderte, Widerstand leistete oder flüchtete, sollte sogleich erschossen werden. Das sofortige Erschießen wurde mit der Dienstanweisung zur Postenpflicht begründet. Bis tief in die Nacht waren Schüsse und Schreie zu hören. Um Mitternacht waren die meisten überlebenden Häftlinge auf einem Sportplatz zusammengetrieben worden. An der am 9. April folgenden Nachsuche in Häusern und Gärten beteiligten sich auch Zivilisten und Volkssturmmänner; sie erschlugen oder erschossen manche Häftlinge.[7] 30 Häftlinge exekutierten sie als Plünderer.

Im Neustädter Holz, in das viele Häftlinge sich geflüchtet hatten, dauerte die Suche bis zum 10. April an; dabei kamen Schusswaffen zum Einsatz. Einigen Häftlingen gelang es, sich bis zum Eintreffen der alliierten Befreier verborgen zu halten. Andere hielt die Bevölkerung fest und übergab sie an deutsche Wehrmachtseinheiten.

Die Aktion führte zur erneuten Gefangennahme von rund 1100 Häftlingen. Nach älteren Angaben wurden wahrscheinlich 200 bis 300 Häftlinge erschossen; als gesichert gilt eine Mindestzahl von 170 Massakeropfern.[8]

Weiterer Ablauf

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Aus ungeklärten Gründen überließ die dezimierte SS-Bewachung einen Teil der Gefangenen der Wehrmacht und trieb etwa 500 (nach anderen Angaben über 2000[9]) weiter nach Bergen-Belsen. Auf diesem Todesmarsch erschoss die SS entkräftete Häftlinge, die nicht mehr weitermarschieren konnten, am Wegesrand.

Die andere Gruppe blieb in einer geräumten Kaserne in Celle zurück. Die Verantwortung für dieses „improvisierte Konzentrationslager“ bekamen ein für das Kriegsgefangenenwesen zuständiger Hauptmann sowie die Stadtverwaltung, die für Verpflegung und ärztliche Versorgung der Gefangenen sorgen sollten. Dies wurde nicht oder nur gänzlich unzureichend erledigt. Bei der kampflosen Übergabe der Stadt am 12. April 1945 fanden die britischen Truppen Hunderte unversorgter Menschen vor, darunter zahlreiche Sterbende sowie Tote. 162 der Befreiten lieferten sie alsbald in ein Hilfskrankenhaus ein.

Nach Angaben von Daniel Blatman erlebten nur 1500 der Häftlinge des Transports den Tag der Befreiung.[10]

Reaktion

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In Celle begegneten britische Soldaten erstmals einer großen Anzahl von KZ-Häftlingen verschiedener Nationalitäten, die halbverhungert und in völlig verwahrlostem Zustand zwischen Sterbenden und Toten gefangen gehalten waren. Dies führte zu einer schwerwiegenden Belastung des Verhältnisses zwischen den Besatzern und der Zivilbevölkerung.

Ermittlungen führten ab 2. Dezember 1947 zum „Celle Massacre Trial“ vor einem britischen „Hochgericht der Kontrollkommission“[11] im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium in Celle, der im April und Mai 1948 in Hannover und wiederum in Celle eine Fortsetzung fand. Drei Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, vier erhielten Haftstrafen zwischen vier und zehn Jahren, sieben wurden freigesprochen. Die Todesurteile wurden später aufgehoben bzw. in Haftstrafen gewandelt; alle schuldig Gesprochenen wurden bis Ende 1952 vorzeitig entlassen. Das letzte Verfahren wurde 2007 eingestellt.[12]

Verdrängung und Aufarbeitung

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Denkmal in der Celler Parkanlage an der Trift
 
Inschrift am Fuß des Baumes[13]

Die Opfer des Luftangriffs auf dem Güterbahnhof waren in Bombentrichtern verscharrt worden. Lediglich 33 von ihnen waren vorher durch ihre Lagernummer identifiziert worden. 1946 begann man, Grabstätten im Neustädter Holz und an der Straße nach Bergen-Belsen zu suchen. Von den aufgefundenen 324 erschossenen oder erschlagenen Opfern, die auf dem Waldfriedhof beigesetzt wurden, konnten nur 65 identifiziert werden.

1949 wurde auf dem Waldfriedhof eine „Ruhestätte für Opfer des Zweiten Weltkrieges“ errichtet, die keine weiteren Angaben über die Ermordung Hunderter von KZ-Häftlingen machte. Lokalhistorische Veröffentlichungen gaben bis 1978 Darstellungen, die „eine größere Anzahl von Zivilpersonen und ungezählte Häftlinge eines Konzentrationslagers“ als Opfer des Bombenangriffs erwähnten, die weiteren Vorkommnisse aber aussparten.[14][15]

In den frühen 1980er Jahren wuchs das Interesse, die Vorgänge aufzuklären. Dies mündete 1989 in die Expertise eines Fachhistorikers und 1992 die Errichtung eines zwischen Bahnhof und Innenstadt errichteten Denkmals mit einer Inschrift, die sich nicht auf die Darstellung des Luftangriffs beschränkt. Dieses von Johnny Lucius geschaffene Denkmal,[16] ein Eisenrahmen mit Schrifttafel, der ein Kiesbeet mit einer Rotbuche umfasst, liegt etwas abseits der Wege. Aufgrund der Bauweise ist die Stelle nur bei näherer Betrachtung, insbesondere der Schrifttafel, als Denkmal erkennbar. Das Stahlquadrat symbolisiert den endlosen Leidensweg, die Buche die Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft.[17] Das Werk ist das Resultat eines vom Celler Stadtrat ausgeschriebenen Wettbewerbes, da eine ursprünglich am Celler Bahnhof geplante Gedenktafel seitens der Deutschen Bundesbahn nicht genehmigt wurde.[18]

Musikalische Geschichtskultur

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Die Deutschpunk-Band Alarmsignal aus Celle hat das Massaker von Celle auf ihrem Album „Attaque“ (2018) musikalisch verarbeitet.[19]

Ähnliche Ereignisse

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Literatur

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  • Wilfried Köppen: „Amtshilfe“. Bis Celle ohne Juden war, in: Werner Holtfort, Norbert Kandel, Wilfried Köppen, Ulrich Vultejus: Hinter den Fassaden. Geschichten aus einer deutschen Stadt, Göttingen 1982, S. 97–102.
  • Tim Wegener: Die Celler „Hasenjagd“. Darstellung, Erinnerung, Gedächtnis und Aufarbeitung, 2003 (Online, auf celle-im-nationalsozialismus.de, abgerufen am 2. Juli 2022).
  • Hasenjagd in Celle. Das Massaker am 8. April 1945. Hrsg. RWLE Möller Stiftung/Schriftenreihe „celler hefte“: Redaktion: Oskar Ansull, Ralph B. Hirsch, Tim Wegener. Celle 2005
  • Mijndert Bertram: 8. April 1945. Celle – ein Luftangriff, ein Massenmord und die Erinnerung daran. In: Detlef Garbe, Carmen Lange: Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung: Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945. Bremen 2005, ISBN 3-86108-799-5, S. 127–144.
  • Reinhard Rohde, Tim Wegener: Celle im Nationalsozialismus, Celle 2007, S. 68–70 (Online, pdf)
  • Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited: Ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren. Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Band 38. Bielefeld 2008, ISBN 978-3-89534-768-9.
  • Daniel Blatman: Das Massaker in Celle in: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Rowohlt, Reinbek 2011, ISBN 3-498-02127-3, S. 435–445.
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Einzelnachweise

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  1. Tim Wegener (Universität Hannover): Die Celler „Hasenjagd“. Darstellung, Erinnerung, Gedächtnis und Aufarbeitung. In: www.celle-im-nationalsozialismus.de. 2003, abgerufen am 24. März 2009.
  2. Hölty-Schüler präsentieren Ausstellung zur Celler Hetzjagd. In: Cellesche Zeitung. 8. April 2008.
  3. Lukas Sander: Eine Stadt erinnert sich. In: www.taz.de. 24. März 2009, abgerufen am 24. März 2009.
  4. so Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords. Reinbek/Hamburg 2011, ISBN 978-3-498-02127-6, S. 437.
  5. Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited. Bielefeld 2008, ISBN 978-3-89534-768-9, S. 115 hält eine Zahl zwischen 400 und 1.000 für wahrscheinlicher.
  6. Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited. S. 64.
  7. Mijndert Bertram: 8. April 1945. Celle – ein Luftangriff, ein Massenmord und die Erinnerung daran. In: Detlef Garbe, Carmen Lange: Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Bremen 2005, ISBN 978-3-86108-799-1, S. 133.
  8. Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited., S. 115.
  9. Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited. S. 119.
  10. Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords. Reinbek/Hamburg 2011, ISBN 978-3-498-02127-6, S. 443.
  11. Bernhard Strebel: Massaker an KZ-Häftlingen in Celle im April 1945 und ihre Nachwirkungen. S. 146. In: Oliver Wrochem (Hrsg.): Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Berlin 2010, ISBN 978-3-940938-87-9, S. 136–150.
  12. "Nach Meinung von Oberstaatsanwalt Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, gibt es für die lückenhafte Verfolgung von Nazi-Verbrechen unterschiedliche Gründe. Anders als die Alliierten wandten die Deutschen das allgemeine Strafrecht an, womit nur dem Einzelnen konkret zuschreibbare Verbrechen geahndet werden konnten. Massenverbrechen, ..., waren damit schwer zu verfolgen. Später kam dann die Verjährung vieler Taten hinzu." Michael Evers in "Die Menschenjagd blieb weitgehend ungesühnt", Nordsee-Zeitung vom 2. Dezember 2017
  13. Auf dem Stein steht:

    AM 8. APRIL 1945 – VIER TAGE VOR DER BESET
    ZUNG DURCH ALLIIERTE TRUPPEN WAR
    CELLE DAS ZIEL EINES GROSSANGELEG
    TEN LUFTANGRIFFS. DABEI WURDE AUF
    EINEM RANGIERGLEIS DES GÜTERBAHN
    HOFS EIN ZUG GETROFFEN, DER UNGEFÄHR
    4000 MÄNNER, FRAUEN UND JUGENDLICHE
    AUS MEHREREN AUSSENLAGERN DES
    KZ NEUENGAMME NACH BERGEN-BELSEN
    BRINGEN SOLLTE. ALS DIEJENIGEN HÄFTLIN
    GE, DIE DEN BOMBEN ENTGANGEN WAREN
    SICH IN SICHERHEIT ZU BRINGEN SUCHT
    EN, MACHTEN ANGEHÖRIGE DER NSDAP
    UND IHRER FORMATIONEN, DER WEHR
    MACHT, POLIZEI SOWIE DES VOLKSSTURMS
    IM STADTGEBIET UND IM NAHEGELEGE
    NEN NEUSTÄDTER HOLZ JAGD AUF SIE
    UND RICHTETEN EIN BLUTBAD UNTER IH
    NEN AN. ETWA 500 DER ÜBERLEBENDEN
    WURDEN VON DER SS SCHLIESSLICH ZU
    FUSS NACH BERGEN-BELSEN GETRIEBEN

    Inschrift der Gedenktafel
  14. Mijndert Bertram: 8. April 1945. Celle. S. 143.
  15. Reinhard Rohde, "Verdrängen - Vergessen - Vergegenwärtigen", Erinnerungspolitik – Was prägt(e) in Celle die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus?, Celle 2006, Text auf "Celle-im-Nationalsozialismus.de" (Memento des Originals vom 22. Oktober 2020 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.celle-im-nationalsozialismus.de
  16. Mijndert Bertram: 8. April 1945. Celle. Anm. 54 auf S. 404.
  17. Mahnmal (Memento des Originals vom 7. Dezember 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.celle.de bei celle.de
  18. Étienne François, Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte, C.H.Beck 2003, ISBN 3-406-50987-8, S. 633f.
  19. Alarmsignal - Attaque (Aggressive Punk Produktionen, 14.09.2018) - HandwrittenMag. In: HandwrittenMag. 13. September 2018 (handwritten-mag.de [abgerufen am 2. Juli 2022]).