Matthias Burchardt

deutscher Bildungsphilosoph

Matthias Burchardt (* 1966 in Köln) ist ein deutscher Philosoph, Pädagoge und Publizist mit den Schwerpunkten Philosophie der Bildung und Anthropologie. In zahlreichen Publikationen und Vorträgen wendet er sich gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und insbesondere des Bildungswesens und kritisiert entsprechende Konzepte der Bildungsreform.

Burchardt studierte zunächst an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften für das Erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien.[1] Er wurde 1999 promoviert, seine Dissertation widmete sich dem Thema Erziehung im Weltbezug: Zur pädagogischen Anthropologie Eugen Finks.[2]

Er ist Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne an der Universität zu Köln.[3]

Mehrere Jahre arbeitete Burchardt für EinsLive (Westdeutschen Rundfunk): Die Sendung Ja? Nein? Jein! behandelte „Gewissenskonflikte zwischen Tiefsinn und Alltagsfragen.“[4]

Er war bis 2022 in der Querdenker-Szene aktiv.[5][6]

Burchardt ist verheiratet und Vater von vier Kindern.[7]

Positionen

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Burchardt vertritt eine kritische Position gegenüber Bildungsreformen in Deutschland, dabei stellt er besonders PISA, Bologna und die Gymnasialreformen infrage. Er analysiert die Rolle von Verlagen und operativen Stiftungen wie Bertelsmann und Pearson, von Persönlichkeiten wie Andreas Schleicher und von der OECD. Fachlichkeit, pädagogische Urteilskraft, didaktische und methodische Fähigkeiten und Persönlichkeitsbildung seien in dem „taylorisierten System der schönen neuen Lernwelt“ eher hinderlich, die Reduzierung des Lehrers auf einen Lernbegleiter stelle eine Deprofessionalisierung dar.[8]

Burchardt gehörte zu den Unterzeichnern der Fünf Einsprüche gegen die technokratische Umsteuerung des Bildungswesens: Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! vom Oktober 2005. Er ist Initiator der Kölner Erklärung Zum Selbstverständnis der Universität (2009).[9][10]

Das System des achtjährigen Gymnasiums erscheint Burchardt als ein „bedenkliches Experiment mit den Schüler(inne)n, die einen hohen Preis entrichten müssen, wenn sich nicht Eltern und Lehrer finden, die sie vor der ökonomistischen Indoktrination schützen und ihnen Gelegenheit zur umfassenden Menschenbildung und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung geben.“[11]

Ökonomisierung

Burchardt kritisiert, dass ein „managerialer Umgang mit dem eigenen Leben“ als Patentrezept für alle biographischen Probleme präsentiert werde. „Im Sinne dessen, was Blüm als ökonomischen Totalitarismus bezeichnet, wird die Rationalität des Marktes, welche in der ökonomischen Sphäre durchaus sinnvoll sein kann, auf alle anderen Lebensbereiche ausgedehnt. Wettbewerb, Kosten-Nutzen-Kalkül, Angebot und Nachfrage, Investition und Rendite, kreative Zerstörung und permanente Innovation erscheinen nunmehr als normative Kriterien in allen Lebensbereichen.“ Menschen sollen sich zum homo oeconomicus, zum „unternehmerischen Selbst“ (Ulrich Bröckling) transformieren, um im Wettbewerb um das knappe Gut der Sozialchancen bestehen zu können. Die sozialpolitische Botschaft sieht Burchardt als ambivalent an: „Wer Investitionen in seine Gesundheit, seine Schönheit, sein soziales Ansehen oder seine Fähigkeiten versäumt, ist für sein Scheitern selbst verantwortlich und braucht nicht mehr auf die Solidarität der Gemeinschaft zu hoffen.“[12]

Digitalisierung und Digitalpakt

Burchardt unterscheidet kurzfristig erforderliche Qualifikationen und Kenntnisse, zu denen er digitale Kenntnisse und Fertigkeiten rechnet, von den längerfristig bedeutsamen kognitiven und praktischen Konzepten. Diesen ordnet er übergreifende Ziele der allgemeinen Menschenbildung über. Beim Lernen trennt er zwischen Gegenständen und Verfahren des Lernens, Digitales könne auch analog vermittelt werden. Burchardt bewertet die Auffassung, dass etwa Tablets und Smartboards Bildung besser als die traditionelle Pädagogik vermitteln könnten, als „digitalen Fetischismus“. Pädagogische Praxis sei nicht von den Medien her zu denken, sondern der Medieneinsatz folge aus der didaktischen Entscheidung der Lehrperson. Burchardt warnt außerdem vor dem Konzept der learning analytics, vor allem im Bereich des E-Learnings, wie es etwa bei Dirk Ifenthaler vorliege. Damit verbunden sieht er die Gefahr des Bildungscontrollings. Er kritisiert die Digitalisierungsinitiative Johanna Wankas, die Digitalisierungsoffensiven in der Bildungspolitik und den Digitalpakt.[13] Pädagogik werde zur Sozialtechnologie transformiert, erziehungswissenschaftliche Reflexion durch Statistik ersetzt.[14]

2019 beurteilte er Digitalisierung als Teil der Entwicklungstendenz zu einem totalitären Überwachungskapitalismus.[15]

Mitgliedschaften und Funktionen

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  • Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft "Ärzte für Aufklärung".[16]
  • Zweiter Vorsitzender der umstrittenen "Hannah Arendt-Akademie der Denker".[17][18][19]

Bibliografie

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Monografien

Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden

  • Sinn, Anderer, Welt – Eugen Finks Modell des Beratungsgespräches. In: Im Gespräch. Nr. 4 (2002) S. 19–30.
  • Vom Pädagogischen Sinn der Gemeinschaft – eine Problemerkundung am Beispiel von Pestalozzis »Abendstunde eines Einsiedlers«. In: Im Gespräch. Nr. 10 (2005) S. 31–43.
  • Prüfung – Machtritual oder Ort existenzieller Bildung? In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn) Heft 3 (2005), S. 333–344.
  • Abschied vom Menschen? In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Heft 3 (2006), S. 357–365.
  • Von der Verantwortung der Verantwortung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Heft 1 (2007), S. 68–79.
  • Beratung. In: Handbuch der Erziehungswissenschaft. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007.
  • Pädagogische Anthropologie. In: Handbuch der Erziehungswissenschaft. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007.
  • als Hrsg. mit Rita Molzberger: Unabhängiger Bildungsbericht. Köln und Umgebung 2007. Norderstedt 2007.
  • zukunftsfähig. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Heft 4 (2008), S. 501–502.
  • Liebesgrüße aus Gütersloh. In: Ursula Frost und Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Demokratie setzt aus.Gegen die sanfte Liquidation einer politischen Lebensform, Sonderheft Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn 2012, S. 59–71. ISBN 978-3-506-77642-6
  • G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur. In: Volker Ladenthin (Hrsg.): weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden – Analysen und Materialien (Pädagogik in Europa in Geschichte und Gegenwart / Pedagogics in Europe: The Past and The Future), Verlag für Kultur und Wissenschaft, 22. Januar 2016. ISBN 978-3-86269-106-7
  • John Dewey. Learning by Dewing – Demokratie und Erziehung. In: Benedikt Wisniewski und Andreas Schöps (Hrsg.): Pädagogen auf Abwegen. Ideen, Ideal und Irrungen großer Schulreformer. Hohengehren 2016, S. 115–126.
  • „herunterbrechen“ In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 2017, Heft 4, S. 568–569.
  • Wer sich nicht ändert, wird verändert. Governance, Schulentwicklung, Change als Bausteine totaler Steuerung. In: Krautz, Jochen/Burchardt, Mattias, 2018, S. 61–80.
  • Verträge, Prozeduren, Trainingsraum – Versuch über den pädotechnischen Autoritarismus. In: Oliver Decker und Christoph Türcke (Hrsg.): Autoritarismus. Kritische Theorie – Psychoanalytische Praxis 6. Gießen, 2019, S. 163–177.

Broschüren

  • Matthias Burchardt: Wider die neoliberale Zurichtung des Menschen. Pad Verlag, 2017
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Einzelnachweise

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  1. Bildungsphilosoph: "Unsere Kinder werden zu Zwergen degradiert" - derStandard.at. Abgerufen am 15. Februar 2021 (österreichisches Deutsch).
  2. Böhmer, Anselm. Phänomenologische Forschungen, 2004, pp. 361–368. JSTOR, www.jstor.org/stable/24360650. Accessed 15 Feb. 2021.
  3. Humanwissenschaftliche Fakultät :: Universität zu Köln. Ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 15. Februar 2021.@1@2Vorlage:Toter Link/www.uni-koeln.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  4. Dr. Matthias Burchardt - Philosophicum Lech. Abgerufen am 15. Februar 2021.
  5. Matthias Meisner: Institut in Bayern gegründet: Akademie der Coronaverharmloser. In: Die Tageszeitung: taz. 19. November 2021, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 6. Februar 2022]).
  6. Die Vermessung der Bildung. Abgerufen am 7. Mai 2022.
  7. Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! Einsprüche gegen die betriebswirtschaftliche Umsteuerung des Bildungswesens Vortrag von Dr. Matthias Burchardt (Universität zu Köln), am 17. Januar 2013, S. 150.
  8. Bildungsphilosoph: "Unsere Kinder werden zu Zwergen degradiert" - derStandard.at. Abgerufen am 15. Februar 2021 (österreichisches Deutsch).
  9. Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb! Einsprüche gegen die betriebswirtschaftliche Umsteuerung des Bildungswesens Vortrag von Dr. Matthias Burchardt (Universität zu Köln), am 17. Januar 2013, S. 149.
  10. Kölner Erklärung. 24. Juli 2012, archiviert vom Original am 24. Juli 2012; abgerufen am 18. Februar 2021.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bildungsstreik-koeln.de
  11. G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur. In: Volker Ladenthin (Hrsg.): weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden - Analysen und Materialien (Pädagogik in Europa in Geschichte und Gegenwart / Pedagogics in Europe: The Past and The Future), Verlag für Kultur und Wissenschaft, 22. Januar 2016. ISBN 978-3-86269-106-7
  12. Matthias Burchardt: Dollarzeichen im Auge - Über die Ökonomisierung der Gesellschaft. In: Wider die neoliberale Zurichtung des Menschen, S. 5 ff.
  13. Matthias Burchardt: Digitalisierung in der beruflichen Bildung, Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft, bbw 5/2017, S. 4 ff
  14. Matthias Burchardt: Digitalisierung in der beruflichen Bildung, Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft, bbw 5/2017, S. 7.
  15. Anke Seidel: „Die Digitalisierung der Bildung dient nicht den Kindern, sondern der IT-Branche“. In: kreiszeitung.de. 4. November 2019, abgerufen am 18. Februar 2021.
  16. Evidenzbasierende Informationen zur aktuellen Pandemie. Archiviert vom Original am 15. Dezember 2021; abgerufen am 15. Dezember 2021.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.aerztefueraufklaerung.de
  17. Denken ohne Geländer: Die Hannah-Arendt-Akademie – Matthias Burchardt im Gespräch | PHILOSOPHIE. Abgerufen am 15. Dezember 2021.
  18. Diana Pieper: „Hannah-Arendt-Akademie“: Eine Art „Querdenken“-Universität und ihre ominösen Betreiber. In: DIE WELT. 6. Dezember 2021 (welt.de [abgerufen am 15. Dezember 2021]).
  19. Hannah-Arendt-Akademie: „Querdenken-Uni“ nach dem Vorbild Hogwarts. 17. Dezember 2021, abgerufen am 26. April 2022.