Der Satz von Lie, benannt nach Sophus Lie, ist ein mathematischer Satz aus der Theorie der Lie-Algebren. Er sichert die Existenz eines gemeinsamen Eigenvektors für alle Elemente einer auflösbaren Lie-Algebra über einem vom Nullraum verschiedenen, endlichdimensionalen -Vektorraum und daraus ergibt sich, dass eine solche Lie-Algebra zu einer Teilalgebra der oberen Dreiecksmatrizen isomorph ist.

Bezeichnungen

Bearbeiten

In diesem Artikel sei   ein endlichdimensionaler  -Vektorraum mit Dimension  . Der Körper   der komplexen Zahlen kann durch einen beliebigen algebraisch abgeschlossenen Körper der Charakteristik 0 ersetzt werden, was in den folgenden Formulierungen aber unterbleibt. Eine Fahne in   ist eine aufsteigende Kette   von Unterräumen mit   für alle  .

Des Weiteren bezeichne   die allgemeine lineare Lie-Algebra über  . Für eine Lie-Algebra   seien die sogenannten abgeleiteten Lie-Algebren   rekursiv definiert durch   und  , wobei letzteres für den von allen Produkten   erzeugten Unterraum stehe. Eine Lie-Algebra heißt auflösbar, wenn es ein   mit   gibt. Ein verwandter Begriff ist die Nilpotenz. Man definiert rekursiv   und   und nennt eine Lie-Algebra nilpotent, wenn es ein   mit   gibt. Da offenbar  , folgt die Auflösbarkeit aus der Nilpotenz, die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht.

Erste Formulierung des Satzes

Bearbeiten
  • Es sei   eine auflösbare Lie-Algebra. Dann gibt es für   einen gemeinsamen Eigenvektor.

Genauer bedeutet das, dass es einen Vektor   aus   gibt, so dass   für jedes   ein Vielfaches von   ist, insbesondere ist   für jedes   ein invarianter Unterraum, das heißt, er wird von   in sich abgebildet.

Zweite Formulierung des Satzes

Bearbeiten
  • Es sei   eine auflösbare Lie-Algebra. Dann gibt es eine  -invariante Fahne.

Das bedeutet genauer, dass es eine Fahne   gibt mit   für alle   und  . Diese Formulierung verschärft die erste, denn offenbar ist jeder Vektor aus   ein gemeinsamer Eigenvektor.

Umgekehrt konstruiert man die Fahne der zweiten Formulierung wie folgt mittels Induktion aus der ersten. Der Induktionsanfang ist  . Hat man   für   bereits konstruiert, so ist

 

wegen der  -Invarianz von   eine wohldefinierte Darstellung von   auf dem Quotientenraum  , und dieser ist wegen   nicht der Nullraum. Dann ist   als homomorphes Bild einer auflösbaren Lie-Algebra wieder auflösbar und auf Grund der ersten Formulierung gibt es einen gemeinsamen Eigenvektor  . Setzt man nun  , so rechnet man leicht nach, dass dieser Unterraum  -invariant ist, womit die induktive Konstruktion beendet ist.

Folgerungen

Bearbeiten

Als erste wichtige Folgerung kann man auflösbare Lie-Algebren mit oberen Dreiecksmatrizen in Verbindung bringen. Ist   eine Fahne wie in der zweiten Formulierung, so kann man mittels Basisergänzungssatz eine Basis   von   konstruieren, so dass   für jedes   eine Basis von   ist. Stellt man die Elemente   bzgl. dieser Basis als Matrizen dar, so erhält man wegen   obere Dreiecksmatrizen. Wir haben daher:

  • Eine auflösbare Lie-Algebra   ist isomorph zu einer Unteralgebra der Lie-Algebra der oberen Dreieckmatrizen.

Wie oben erwähnt sind nilpotente Lie-Algebren auflösbar, wobei die Umkehrung im Allgemeinen nicht gilt. Daher ist folgende Aussage auf den ersten Blick überraschend:

  • Ist   eine auflösbare Lie-Algebra, so ist   nilpotent.

Nach der ersten Folgerung ist   isomorph zu einer Unteralgebra der oberen Dreiecksmatrizen. Da ein Kommutator zweier oberer Dreiecksmatrizen eine strikte obere Dreiecksmatrix ist, das heißt die Diagonalelemente sind sämtlich 0, ist   isomorph zu einer Unteralgebra der nilpotenten Lie-Algebra der strikten oberen Dreiecksmatrizen und daher selbst nilpotent.

Als weitere Folgerung kann man in einer auflösbaren Lie-Algebra eine Fahne von Idealen konstruieren:

  • Ist   eine auflösbare Lie-Algebra, so gibt es eine Fahne   von Idealen.

Zum Beweis beachte man, dass das Bild der adjungierten Darstellung eine auflösbare Lie-Algebra in   ist. Dort gibt es nach obigem Satz von Lie eine invariante Fahne, und die invarianten Unterräume von   sind Ideale. Eine solche Kette von Idealen nennt man eine Hölder-Reihe der Lie-Algebra.

Ist   eine irreduzible Darstellung, so ist mit   auch   auflösbar, hat also nach obigem Satz von Lie einen gemeinsamen Eigenvektor  . Der von   aufgespannte eindimensionale Unterraum ist dann invariant, muss also wegen der Irreduzibilität mit   übereinstimmen, und das ist die Behauptung.

Andere Grundkörper

Bearbeiten

Der Satz von Lie ist ebenfalls richtig fūr Vektorräume über algebraisch abgeschlossenen Körpern der Charakteristik Null. Dagegen gibt es Gegenbeispiele für Vektorräume über den reellen Zahlen oder über Körpern positiver Charakteristik.

Literatur

Bearbeiten
  • Joachim Hilgert, Karl-Hermann Neeb: Lie-Gruppen und Lie-Algebren, Vieweg (1999), ISBN 3-528-06432-3, Kapitel II, §2: Nilpotente und auflösbare Lie-Algebren
  • James E. Humphreys: Introduction to Lie Algebras and Representation Theory, Springer-Verlag (1972), ISBN 0-387-90052-7, Kapitel 4.1: Lie's Theorem