Schilfmeer
Das Schilfmeer (hebräisch יַם־סוּף yam-sūf[1]; altägyptisch pa-tjufi[1]) ist im Buch Exodus der Ort der durch JHWH veranlassten göttlichen Errettung des Volkes Israel während des Auszugs aus Ägypten (Ex 15,4 EU).
Schilfmeer in Hieroglyphen | ||||||||||
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pa-tjufi / pa-tjufa p3-ṯwfj Das (Meer) der Pflanzen / des Papyrusdickichts |
Lokalisierungen des Schilfmeeres
BearbeitenEine genaue Lokalisierung des Schilfmeeres ist nicht möglich, da die verschiedenen Überlieferungen unterschiedliche Regionen nennen und genaue Ortsangaben fehlen. So versuchen die „vorpriesterlichen Redaktoren“ zunächst das Lager Etam „am Rand der Wüste“ (Ex 13,20 EU) mit dem Gebiet der Bitterseen im altägyptischen Grenzgebiet des Ostdeltas (Gaue Tjeku und Kemwer) zu verbinden. Dieser Versuch zeigt, dass bereits in den damals ältesten vorliegenden Überlieferungen (Mirjamlied Ex 15,19-21 EU) die genaue Lage des Schilfmeeres unbekannt war, was auch an den allgemeinen Formulierungen „am Meer“ beziehungsweise „mitten in das Meer“ deutlich wird.[2]
Die in Frage kommende Region der vorpriesterlichen Überlieferungen würde sich dann nördlich vom Nordende des Golf von Sues im Grenzbereich des Wadi Tumilat am Ballah-See, Timsahsee oder bei Sues befinden. Der gesamte Westteil des Wadi-Tumilat war während des Altertums durch einen See gefüllt, der sich aus Entwässerungskanälen und abzweigenden Flussarmen speiste. Möglicherweise bestand zu damaliger Zeit noch eine seichte Wasserverbindung zwischen dem Nordende vom Golf von Sues und den Bitterseen. Die weiteren Ergänzungen und Ausschmückungen der Meerwundererzählung zeigen das Bemühen der vor- und nichtpriesterlichen Redaktoren, die an sich knapp gehaltene Überlieferung anachronistisch mit genaueren sowie teilweise abweichenden Ortsangaben zu versehen.[2] Als Begründung für die überlieferten Ortsverlegungen kann die nach der 20. Dynastie vorgenommene Aufgabe und Verlegung von Piramesse nach Tanis verantwortlich sein.
Im Verlauf des ersten Jahrtausends v. Chr. wurde die in Memphis seit dem 13. Jahrhundert v. Chr. bestehende Verehrung von Baal-Zefon auf die am Sirbonischen See auf einer Nehrung liegende Erhebung Kasion erweitert und Baal-Zefon geweiht, der anschließend im östlichen Nildelta zu einer gewichtigen Gottheit aufstieg, insbesondere in Pelusium und Daphnae. Die Grenzfestung (westsemitisch Migdol) von Ramses III. befand sich etwa 7 Kilometer südwestlich von Pelusium; die Grenzfestung von Sile lag etwa 10 Kilometer östlich von Daphnae sowie etwa 20 Kilometer südwestlich von Pelusium. Ein demotisches Onomastikon nennt neben Zefon (demotisch djpn) auch die Orte Pelusium sowie Pa-Hahirot (demotisch hrhrt). Im Papyrus Amherst 63 (Psalm 20) wird Zion mit Zefon sowie JHWH mit Horus überliefert. Eine mögliche Verbindung für diese Gleichsetzung ergibt sich aus der Funktion des Baal-Zefon als Schutzgott der Seefahrt. Möglicherweise spiegelt die Meerwundererzählung in diesem Zusammenhang den Sieg JHWHs über Baal-Zefon wider. Der Redaktor der Priesterschrift sah sich aufgrund des neuen heiligen Berges Kasion und der veränderten Situation jedenfalls veranlasst, die Meerwundererzählung in diese Region zu verorten, die wohl schon während der Exilzeit einen erheblichen Einfluss besaß.[3]
Ob allerdings bereits zur Abfassungszeit der Priesterschrift ein der Gottheit Baal-Zefon geweihtes Heiligtum auf der Nehrung vorhanden war, bleibt unklar, da entsprechende Bodenfunde sowie Ruinen fehlen. Die Existenz eines Heiligtums und einer Stadt wird daher zumindest für Kasion angezweifelt.[4] Außerdem ergänzte in der Priesterschrift ein Redaktor die Ortsangabe „Baal-Zefon“ erst später als Nachtrag. Die genaue Lage von Pa-Hahirot bleibt nach wie vor unbekannt. Die Forschung setzt daher allgemein das Gebiet des Sirbonischen Sees als Ort der Schilfmeerwundergeschichte hinsichtlich der Priesterschrift an, wobei sich Pa-Hahirot wohl in der Nähe von Pelusium befand.
In hellenistischer Zeit erfuhr das Schilfmeer eine erneute Verortung, diesmal in südliche Richtung. Die griechisch-römischen Übersetzer sahen im Schilfmeer das Rote Meer, da diese Konstellation zu der damals aktuellen politischen Geografie passte. Die Auszugsroute verlief somit von Heliopolis ostwärts über das Wadi Tumilat in Richtung Tjeku, um das Schilfmeer via südlich der Bitterseen am Ende des Golfs von Sues zu vermuten. Jene Verortung als Rotes Meer fand schließlich auch Eingang in das Neue Testament. Insofern ergab sich eine Bandbreite für das Schilfmeer vom Mittelmeer bis zum Roten Meer. Eine Festlegung auf eine bestimmte Region ist jedoch nicht möglich, wobei das Seengebiet um Tjeku/Wadi Tumilat den wahrscheinlichen Ort der Meerwundererzählung repräsentiert.
Quellengeschichte der Errettung am Schilfmeer
BearbeitenWährend der Ort des „Schilfmeers“ zunächst unklar bleibt, ist die Quellengeschichte des Textes der Bibel durch historisch-kritische Forschung gut geklärt. Im biblischen Text sind mindestens drei Quellen miteinander verwoben: die „nicht- beziehungsweise vorpriesterlichen Überlieferungen“, die Aufzeichnungen eines Priesters in der „Priesterschrift“ und eine poetische Quelle.
Fassung der vorpriesterlichen Überlieferungen
BearbeitenDie ältesten vorpriesterlichen Überlieferungen entstanden wahrscheinlich einige Jahrhunderte vor der Priesterschrift. Genaue Ortsangaben fehlen. Die Auszugsroute lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass der Weg des Auszugs südlich von Tjeku im weiteren Verlauf östlich in die Region des Timsahsees zum Schilfmeer verlief, zumal der Ort Etam nur einen altägyptischen Ortsnamen widerspiegelt, der nicht mehr als eine Tagesreise vom Wadi Tumilat entfernt lag. Die Einleitung des Schilfmeerwunders nennt die eingeschlagene Route der Israeliten:
„12,37 Die Israeliten brachen von Piramesse nach Sukkot auf. 13,20 Sie brachen von Sukkot auf und schlugen ihr Lager bei Etam am Rande der Wüste auf. 13,21 JHWH zog vor ihnen her in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen. 14,5-6 Als dem König von Ägypten gesagt wird, dass das Volk geflohen ist, spannt er seinen Wagen an und nimmt sein Kriegsvolk mit sich.[5] 14,10 Die Israeliten hoben ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her. Und sie fürchteten sich. 14,13 Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil JHWH heute an euch tun wird. JHWH kämpft für euch.“
Im weiteren Verlauf wird das Schilfmeerwunder beschrieben. JHWH tritt in der vorpriesterlichen Fassung aktiv als „Retter Israels“ auf. Während Mose passiv bleibt, nicht in das Geschehen eingreift und nur das Wirken JHWH erklärt, fungiert der Ostwind als „Werkzeug JHWHs“. Die Ägypter veranlasst JHWH, selbst in ihr Unglück zu rennen.
„21 JHWH trieb die ganze Nacht hindurch das Meer durch einen starken Ostwind fort und ließ das Meer austrocknen. 24 Um die Zeit der Morgenwache blickte JHWH...auf das Lager der Ägypter und brachte es in Verwirrung. 25 Er hemmte die Räder ihrer Wagen und ließ sie nur schwer vorankommen. Da sprachen die Ägypter „Wir müssen vor Israel fliehen, denn JHWH kämpft für sie gegen Ägypten“. 27 Gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück, während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen. So trieb JHWH die Ägypter mitten ins Meer. 30 So rettete JHWH an jenem Tag Israel aus der Hand der Ägypter. 31 Als Israel sah, dass JHWH mit mächtiger Hand an den Ägyptern gehandelt hatte, fürchtete das Volk JHWH...und so vertrauten sie ihm und Mose, seinem Knecht.“
Fassung der Priesterschrift
BearbeitenDie Priesterschrift entstand im sechsten Jahrhundert v. Chr. während des babylonischen Exils. Statt des Ostwindes agiert Mose als Werkzeug JHWHs, der seine Macht durch das Schilfmeerwunder demonstriert. Der priesterliche Redaktor wählte als erzählerische Grundlage das altbekannte Motiv der Zehn Plagen, die Mose als Werkzeug JHWHs auslöst. Die Priesterschrift schließt mit der Meerwundererzählung damit direkt an den Erzählstrang der Zehn Plagen an. Im Gegensatz zu den nichtpriesterlichen Quellen ereignete sich das Schilfmeerwunder am Tag, weshalb nur in der Priesterschrift und deren späteren Nachträgen vom vorherigen Nachtlager die Rede ist. Die Ausführungen der Priesterschrift machen daher den Sirbonischen See als Ort des Wunders wahrscheinlich.
„1 Und JHWH redete mit Mose und sprach: 2 Rede zu den Israeliten und sprich, dass sie umkehren und sich lagern bei Pi-Hahirot zwischen Migdol und dem Meer.[8] 4 ...Und sie taten so. 10 Und als der Pharao nahe herankam, ...schrien sie zu JHWH... 15 Und JHWH sprach zu Mose: ...Sage den Israeliten, dass sie weiterziehen. 16 ...Recke deine Hand über das Meer und teile es mitten durch, so dass die Israeliten auf dem Trockenen mitten durch das Meer gehen. 21 Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ...teilten sich die Wasser. 22 Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. 23 Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach...mitten ins Meer. 27 Da reckte Mose seine Hand aus über das Meer... 28 Und das Wasser kam wieder und bedeckte Wagen und Männer, das ganze Heer des Pharao, das ihnen nachgefolgt war ins Meer, so dass nicht einer von ihnen übrigblieb.“
Rezeption
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Christoph Berner: Die Exoduserzählung. Das literarische Werden einer Ursprungslegende Israels (= Forschungen zum Alten Testament. Band 73). Mohr Siebeck, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150542-3, (Zugleich: Universität Göttingen, Habilitations-Schrift, Göttingen 2010).
- Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (= Grundrisse zum Alten Testament. Band 4, Nr. 1–2). 2 Bände. 3. durchgesehene Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-51679-7 (Band 1), ISBN 3-525-51680-0 (Band 2).
- Rainer Hannig: Großes Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch. (2800–950 v. Chr.) (= Kulturgeschichte der antiken Welt. Band 64 = Hannig-Lexica. Band 1). Marburger Edition, 4. überarbeitete Auflage, von Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-1771-9.
- Jan Christian Gertz: Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Heft 186). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-53870-7 (Zugleich: Universität Göttingen, Habilitations-Schrift, Göttingen 1998/99).
- Hedwig Lamberty-Zielinski: Das „Schilfmeer“. Herkunft, Bedeutung und Funktion eines alttestamentlichen Exodusbegriffs (= Athenäums Monografien. Theologie. Band 78). Hain, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-445-09134-X (Zugleich: Habilitations-Schrift, Universität Bonn, Bonn 1989/90).
- Martin Noth: Geschichte Israels. 10. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986, ISBN 3-525-52120-0.
Anmerkungen
Bearbeiten- ↑ a b Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Göttingen 2001, S. 110.
- ↑ a b Martin Noth: Geschichte Israels. Göttingen 1986, S. 109–111.
- ↑ Klaus Koch: Der Gott Israels und die Götter des Orients. Religionsgeschichtliche Studien II. Zum 80. Geburtstag von Klaus Koch (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Band 216). Herausgegeben von Friedhelm Hartenstein und Martin Rösel. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-53079-5, S. 159–160.
- ↑ Wolfgang Helck, Eberhard Otto (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Band 5: Pyramidenbau – Steingefässe. Harrassowitz, Wiesbaden 1984, ISBN 3-447-02489-5, Spalte 629–634. Vergleiche auch: Eliezer D. Oren: Migdol: A New Fortress on the Edge of the Eastern Nile Delta. In: Bulletin of the American Schools of Oriental Research. Band 256, Herbst 1984, ISSN 0003-097X, S. 7–44.
- ↑ Christoph Berner: Die Exoduserzählung. Tübingen 2010, S. 344: Die Vorstellung, dass Könige persönlich ihren Streitwagen anspannen, zeigt sich ebenso in 2 Kön 9,21 EU. Die erwähnte Flucht der Israeliten wird in Ex 14,5-6 EU mit der Flucht des Mose in Ex 2,15 EU assoziiert. In beiden Fällen entkamen die Geflohenen dem Pharao.
- ↑ Christoph Berner: Die Exoduserzählung. Tübingen 2010, S. 343–344 und 348–349.
- ↑ Sabine Frank: Das Exodusmotiv des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche, exegetische sowie systematisch-theologische Grundlagen und fachdidaktische Entfaltungen (= Forum Theologie und Pädagogik. Band 10). Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-7510-5, S. 204.
- ↑ Die Ortsangabe Baal-Zaphon ist als nachpriesterlicher Nachtrag anzusehen.
Weblinks
Bearbeiten- Andreas Michel: Meerwundererzählung. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart März 2008
- Biblisches Wunder: Ostwind soll das Meer geteilt haben Spiegel Online, 22. September 2010