Das antike Thule (altgriechisch Θούλη Thoule, auch Tuli, Tile oder Tyle) ist eine von dem antiken griechischen Entdecker Pytheas aus Massilia (Marseille) im 4. Jahrhundert v. Chr. beschriebene Insel, die später eine quasi-mythische Bedeutung erhielt.

Die Insel „Thule“ als „Tile“ in der Carta Marina aus dem Jahre 1539. Erstellt von Olaus Magnus (1490–1557).

Ursprung: Bericht des Pytheas

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Um 325 v. Chr. bereiste Pytheas die iberische Halbinsel und Nordwesteuropa. Seinen Berichten zufolge liegt Thule im äußersten Norden, sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien.[1] Daher stand der Name Thule seit der Antike sprichwörtlich für den äußersten Nordrand der Welt (lateinisch ultima Thule). Etymologisch könnte das Wort mit urindogermanisch *telu ‚Boden‘, ‚Ebene‘ zusammenhängen (vgl. lat. tellus oder urkeltisch *telǝ-mō ‚Erde‘).

Pytheas‘ Werk Über das Weltmeer ist nur noch durch Zitate in den Werken anderer Autoren (u. a. Strabon, Eratosthenes oder Plinius dem Älteren) bekannt. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Autoren sich gegenseitig kritisieren, einander Fehler vorwerfen und die Entfernungsangaben bezweifeln.[2] Strabon wirft ihm sogar vor, er sei ein „Fälscher“, weil andere Reiseberichte über Britannien und Irland die Insel Thule nicht erwähnen, sondern stattdessen über viele kleine Inseln berichten.[1] Pytheas und die ihm folgenden Autoren verorteten Thule im hohen Norden, da einer seiner Notizen zufolge das „geronnene Meer“ (also wohl das Eismeer) eine Tagesfahrt von Thule entfernt beginnt. Demzufolge wurde von verschiedenen Seiten angenommen, dass es sich um die Lofoten, Island oder die Färöer gehandelt haben könnte.[3] Neuere Forschungen von Geodäten und Wissenschaftshistorikern gehen davon aus, dass es sich bei dem erwähnten Reiseziel von Pytheas um die Insel Smøla vor der norwegischen Küste nahe Trondheim handeln dürfte.[4]

Thule in römischer Zeit

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Der Historiker Tacitus berichtete in seinem Werk Agricola, dass zur Zeit des Statthalters Gnaeus Iulius Agricola eine römische Flotte die britischen Inseln umsegelte und dabei die Inselgestalt Britanniens bewiesen habe. Während der Fahrt seien die orcades (Orkney-Inseln) entdeckt und „bezwungen“ worden. Dann folgt der Satz:

“Dispecta est et Thule, quia hactenus iussum, et hiems adpetebat.”

„Nur in Sicht kam Thule, weil der Auftrag nur so weit reichte und überdies der Winter nahte.“[5]

Die Römer verstanden unter „Thule“ also etwas, das jenseits der „orcades“ lag. Ob damit die Shetland-Inseln gemeint sind, ist fraglich, da angenommen wird, dass diese bereits von Pomponius Mela (43 n. Chr.) und Plinius dem Älteren (77 n. Chr.) als Haemodae, bzw. Acmodae, genannt wurden.

Thule im Mittelalter

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„Thule“ wurde in spätantiken und mittelalterlichen Schriften dann in den verschiedensten Zusammenhängen erwähnt. So berichtete etwa der spätantike Historiker Prokop (500–562) in seinem Werk Der Gotenkrieg:

„Als die Heruler von den Langobarden geschlagen waren und ihre alten Wohnsitze aufgaben, ließ sich ein Teil derselben […] in Illyrien nieder, der andere wollte nicht die Donau überschreiten, sondern gründete Wohnsitze am äußersten Ende der bewohnten Welt: Unter Führung vieler Mitglieder der königlichen Familien zogen sie zuerst durch alle Länder der Slawen, dann durch die Wüste, bis sie zu den Warnen kamen. Dann wanderten sie durch das Land der Danen. Und alle diese wilden Völker taten ihnen nichts. Am Ozean angelangt, gelangten sie zu Schiff und fuhren nach Thule, wo sie blieben. Thule ist eine sehr große Insel, über zehnmal größer als Britannien; es liegt von dort aus noch weiter im Norden.“[6]

Allerdings ist nicht klar, ob damit tatsächlich das pytheische Thule gemeint war, da Beda und Adam von Bremen den Namen auch für einen Ort verwendeten, mit dem auch Island gemeint sein könnte. Wahrscheinlich ist, dass die durch die antiken Schriften bekannte Bezeichnung auf die verschiedensten Orte im Norden Europas übertragen wurde, ohne dass ein Zusammenhang bestehen muss.

Das mythische Thule

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Die Bruchstückhaftigkeit der antiken Überlieferung bedingt auch, dass Thule schon in römischer Zeit und im Mittelalter eine mythische Bedeutung erhielt, die eher an Avalon, Atlantis oder Camelot als an die nüchterne pytheische Geografie erinnert.

In dieser Tradition wurde „Thule“ als fiktive Örtlichkeit in Kunstwerken verarbeitet. In Goethes Faust findet sich das Lied Der König in Thule. Von Vladimir Nabokovs Romanfragment Solus Rex ist ein dort situiertes Kapitel Ultima Thule erhalten. Die Comic-Figur Prinz Eisenherz wird als Sohn des Königs von Thule beschrieben.

Vermutete geografische Lage

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Ein Forscherteam des Instituts für Geodäsie und Geoinformationstechnik der TU Berlin versuchte im Rahmen der Erforschung des Kartenwerks Ptolemäus’ die tatsächliche geografische Lage Thules nachzuweisen.[7] In diesen Karten sei nach Ansicht des Forschungsteams die Lage „Thules“ zwar angegeben, aber bislang nicht verifizierbar gewesen, weil Ptolemäus bei der Erstellung seiner Karten eine für Nordeuropa systematisch verzerrte Methode für die Bestimmung der geographischen Breite verwendete und die vermutlich wesentlich genauere Bestimmung durch Pytheas ignorierte. Nach Korrektur dieses Fehlers habe sich ergeben, dass Thule wahrscheinlich der vor Trondheim befindlichen norwegischen Insel Smøla entspreche, die Pytheas als erster Grieche betreten habe.[8]

Diese Lagebestimmung würde mit antiken Entfernungsangaben für Schiffsreisen gut übereinstimmen. Die Insel Island kommt für das Ziel der Reise von Pytheas jedenfalls nicht in Frage, da dieser Bewohner angetroffen hatte und Island zur damaligen Zeit noch nicht besiedelt war.[8] Nicht feststellen lässt sich, ob mit Thule nur die Insel Smøla gemeint war oder die gesamte fruchtbare Region an der Trondheimer Bucht, die spätestens seit der römischen Kaiserzeit einen regen Handel mit dem Mittelmeerraum betrieb, aber nicht ohne Weiteres als Festland zu erkennen war, wenn man sie von Britannien mit dem Schiff ansteuerte.

Neuere Bezugnahmen

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Ultima Thule

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Als „Ultima Thule“ wird von Geologen der nördlichste Landpunkt der Erde benannt. Dabei handelt es sich um eine Insel vor der Nordküste Grönlands. Dabei ist umstritten, ob dies Kaffeklubben Ø ist oder eine der zahlreichen regelmäßig durch das Treibeis entstehenden und wieder zerfallenden Kiesbänke etwas weiter nördlich, die im Artikel Nördlichste Insel der Erde behandelt werden.

Astronomisches Objekt

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Das transneptunische Objekt (486958) Arrokoth erhielt als das bis dahin erdfernste Objekt, das Anfang 2019 von einer Sonde aus der Nähe untersucht wurde, den inoffiziellen, vorläufigen Namen „Ultima Thule“, vor seiner Benennung Ende 2019 als Arrokoth.

Thule-Gesellschaft

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Im August 1918 ging aus dem deutschen antisemitischen Germanenorden in München die Thule-Gesellschaft hervor, die die geheimen Aktivitäten des Ordens im öffentlichen Bereich ergänzen sollte. Die Bezeichnung „Thule“ wurde gewählt, um die Verbindung zu der Geheimgesellschaft zu kaschieren.[9] Die Thule-Gesellschaft war neben ihrer antisemitischen Propaganda-Tätigkeit auch aktiv an der Bekämpfung des im Rahmen der Novemberrevolution durch Kurt Eisner ausgerufenen Freien Volksstaates Bayern und der nachfolgenden Münchner Räterepublik beteiligt. Danach löste sie sich bald auf.

Wilhelm Landig

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Der ehemalige SS-Mann Wilhelm Landig (1909–1997) veröffentlichte die Trivialromane Götzen gegen Thule (1971), Wolfszeit um Thule (1980) und Rebellen für Thule (1991). Die Trilogie – ein „Standardwerk des esoterischen Neonazismus[10] – greift Ideen des metaphysischen Rassentheoretikers Julius Evola auf und schildert den Kampf einer Gruppe von SS-Leuten, die von Thule, einer geheimen Basis in der Arktis, aus in Reichsflugscheiben Freimaurer und die „Hilfstruppen des Berges Zion“ bekämpfen, weil diese eine Weltregierung errichten möchten.[11]

Thule-Seminar

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Des Weiteren findet sich „Thule“ im Namen des neuheidnisch geprägten rechtsextremen Thule-Seminars, das 1980 in Kassel gegründet wurde. Die Gruppierung nimmt mit dem Namen Bezug auf die Thule-Gesellschaft.[12]

Element Thulium

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Das 1879 in Schweden entdeckte chemische Element Thulium wurde nach Thule benannt.

Literatur

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  • Gustav Moritz Redslob: Thule. Die phönicischen Handelswege nach dem Norden, insbesondere nach dem Bernsteinlande sowie die Reise des Pytheas von Massilien. Leipzig 1855.
  • Richard Francis Burton: Ultima Thule; or, A summer in Iceland. W. P. Nimmo, London/Edinburgh 1875, S. 1–34 (Digitalisat).
  • Barry Cunliffe, Marie-Geneviève l’Her: Pythéas le grec découvre l’Europe du Nord. Autrement, Paris 2003, ISBN 2-7467-0361-0.
  • Monique Mund-Dopchie: Ultima Thulé: historie d’un lieu et genèse d’un mythe. Droz, Genf 2008, ISBN 978-2-600-01234-8.
  • Thibaud Guyon, Jeanine Rey, Philippe Brochard: Pythéas l’explorateur. De Massalia au cercle polaire. École des loisirs, Paris 2001, ISBN 2-211-06251-2.
  • Hugues Journès, Yvon Georgelin, Jean-Marie Gassend: Pythéas, explorateur et astronome. ed. de la Nerthe, Ollioules 2000, ISBN 2-913483-10-0.
  • Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knobloch und Dieter Lelgemann: Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios’ „Atlas der Oikumene“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-23757-9 (Buch. 131 Seiten mit teils farbigen Karten).
  • Jean Mabire: Thulé, le Soleil retrouvé des hyperboréens. Pardès, Paris 1975, Lafont, Paris 1978, Éd. du Trident, Paris 1986, ISBN 2-86714-287-3.
  • Ferdinand Lallemand: Journal de bord de Pytheas. éditions de Paris, Paris 1956, éditions France-Empire, Paris 1974, J.-M. Garçon, Marseille 1989, ISBN 2-9502847-6-0.
  • Dimitri Michalopoulos, Ultima Thule ou Dieu a de l’humour. (online).
  • Samivel (d. i. Paul Gayet-Tancrède): L’or de l’Islande. Arthaud, Paris 1963. Deutsche Ausgabe: Island. Kleinod im Nordmeer. Rascher, Zürich/Stuttgart 1964.

Einzelnachweise

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  1. a b Strabon, Geographika 1,4,2 (englische Übersetzung).
  2. Strabon, Geographika 2,4,1f. (englische Übersetzung).
  3. François Lasserre: Thule. In: Der Kleine Pauly (KlP). Band 5, Stuttgart 1975, Sp. 799.
  4. Germania und die Insel Thule. Abgerufen am 2. Mai 2023.
  5. Tacitus, Agricola 10,4.
  6. Prokopios von Caesarea: Kriegsgeschichte VI.15.
  7. Axel Bojanowski: Eine neue Vermessung der alten Welt. In: sueddeutsche.de. 17. Mai 2010, abgerufen am 28. Februar 2023.
  8. a b Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knobloch, Dieter Lelgemann: Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios’ Atlas der Oikumene. Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-23757-9, S. 104–114.
  9. Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Marix Verlag, Wiesbaden 22004, S. 129.
  10. Julian Strube: Die Erfindung des esoterischen Nationalsozialismus im Zeichen der Schwarzen Sonne. In: Zeitschrift Für Religionswissenschaft 20, Heft 2(2012), S. 223–268, hier S. 233.
  11. Dana Schlegelmilch, Jan Raabe: Die Wewelsburg und die „Schwarze Sonne“. In: Martin Langebach, Michael Sturm (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten. Springer VS, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-00131-5, S. 79–100, hier S. 89.
  12. Martina Kirfel, Walter Oswalt: Die Rückkehr der Führer. Europaverlag 1991, S. 193.