Verfassung der Russischen Föderation
Die Verfassung der Russischen Föderation (russisch Конституция Российской Федерации Konstituzija Rossijskoi Federazii) wurde am 12. Dezember 1993 durch eine Volksabstimmung angenommen und trat am 25. Dezember desselben Jahres in Kraft, dem Tag der Veröffentlichung ihres Textes im Amtsblatt Rossijskaja gaseta. Sie ersetzte die Verfassung der RSFSR von 1978. Einer der Autoren des Verfassungstextes war Wiktor Leonidowitsch Scheinis, der Sergei Sergejewitsch Alexejew, Anatoli Alexandrowitsch Sobtschak und Sergei Michailowitsch Schachrai als die führenden Personen bei der Gestaltung des Verfassungsentwurfs bezeichnete. Schachrai war dann Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten der Russischen Föderation im Verfassungsgericht der Russischen Föderation.[1]
Die Verfassungswirklichkeit des politischen Systems entspricht den Modellen defekter Demokratien oder der Postdemokratie, zumal der Präsident autokratische Macht ausübt.[2][3][4]
Unterteilung
BearbeitenDie Verfassung der Russischen Föderation ist wie folgt unterteilt:
- Präambel
- Erster Abschnitt: Die Grundbestimmungen
- Kapitel 1. Grundlagen der Verfassungsordnung (Art. 1–16)
- Kapitel 2. Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers (Art. 17–64)
- Kapitel 3. Föderativer Aufbau (Art. 65–79)
- Kapitel 4. Der Präsident der Russischen Föderation (Art. 80–93)
- Kapitel 5. Föderationsversammlung (Art. 94–109)
- Kapitel 6. Regierung der Russischen Föderation (Art. 110–117)
- Kapitel 7. Die rechtsprechende Gewalt (Art. 118–129)
- Kapitel 8. Die örtliche Selbstverwaltung (Art. 130–133)
- Kapitel 9. Verfassungsänderungen und Überarbeitung der Verfassung (Art. 134–137)
- Zweiter Abschnitt: Die Schluss- und Übergangsbestimmungen
Im ersten Abschnitt werden die Grundlagen des politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Systems Russlands festgelegt, während der zweite Abschnitt die Stabilität der Verfassungsgesetze sichern soll sowie Übergangsbestimmungen bei Einführung dieser Verfassung enthält. Das Kapitel 9 des ersten Abschnittes gesteht dem Präsidenten Russlands, dem Föderationsrat, der Staatsduma und der Regierung der Russischen Föderation das Recht, Änderungsvorschläge für Verfassungsbestimmungen einzubringen. Dabei können nur die Bestimmungen in den Kapiteln 3 bis 8 geändert werden. Eine Änderung benötigt eine Zweidrittelmehrheit in der Duma sowie drei Fünftel der Stimmen des Föderationsrats, ferner die Bestätigung durch Parlamente von mindestens zwei Drittel der russischen Föderationssubjekte. Eine Änderung von Bestimmungen in den Kapiteln 1, 2 oder 9 ist nur im Zuge des Vorschlags einer kompletten Neuerarbeitung der Verfassung möglich, welche neben der Zustimmung durch die beiden Parlamentskammern auch eine Legitimation durch eine Volksabstimmung benötigt.
Verfassungsänderungen
Bearbeiten2008
Bearbeiten2008 wurde die Verfassung erstmals geändert, danach wurde die Amtszeit des russischen Präsidenten von 4 auf 6 Jahre, die Amtszeit der Abgeordneten der Staatsduma von 4 auf 5 Jahre verlängert und es wurde festgelegt, dass die Regierung der Staatsduma Rechenschaft ablegen muss.
Bislang wurden insgesamt acht Änderungen an der Verfassung von 1993 vorgenommen, die überwiegend den föderativen Aufbau Russlands betrafen. Unter anderem wurde per Gesetz vom 25. März 2004 das neue Föderationssubjekt Region Perm durch den Zusammenschluss zweier Subjekte – Oblast Perm und Autonomer Kreis der Komi-Permjaken – gebildet.
2014
BearbeitenNach dem Referendum über den Status der Krim wurde mit Gesetz vom 21. März 2014 der Art. 65 der Verfassung dahingehend geändert, dass nun auch die Krim und die Stadt Sewastopol Föderationssubjekte seien.
2020
BearbeitenMitte März 2020 wurde vom Parlament mit einer einzigen Gegenstimme im Föderationsrat (Oberhaus)[5][6] eine Verfassungsänderung verabschiedet, die die Zählung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin annullierte. Auch in den Parlamenten der Regionen wurden die Änderungen innerhalb kürzester Zeit[7] angenommen. Die einzige Abgeordnete, die sich im Parlament von Sacha dagegen ausgesprochen hatte, begründete ihre Ablehnung durch die dieser Verfassung innewohnenden Gefahr für die Gewaltenteilung.[8] Das Verfassungsgericht, das in der gesamten Amtszeit Putins nie gegen die Regierung entschieden hatte, bekam ab jenem Zeitpunkt eine Woche Zeit, die Verfassungsänderung zu beurteilen, und erklärte am 16. März deren Rechtmäßigkeit. Am 18. März unterschrieb Putin das Verfassungsänderungsgesetz. Durch das Inkrafttreten des Änderungsgesetzes gelten laut Eberhard Schneider bereits eine Anzahl Gesetze als überholt.[9]
Als letzter Schritt des Verfahrens war eine für den 22. April geplante Volksabstimmung vorgesehen, durch die die Verfassungsänderung eine nachträgliche Bestätigung durch das russische Volk erhalten sollte.[10] Doch erforderten die vorgesehenen Erneuerungen der Verfassung rechtlich weder ein Referendum noch die Einberufung der Verfassungsversammlung.[9] Zwar ist die Volksabstimmung im Regelfall nicht bindend,[11] doch das Verfassungsänderungsgesetz der Duma sah sie diesmal explizit als bindend vor.[12] Die für den 22. April 2020 geplante Volksbefragung wurde wegen der COVID-19-Pandemie auf den 25. Juni 2020 verschoben und lief bis zum 1. Juli 2020.[13][14]
Insgesamt umfasste die Verfassungsänderung mehr als 170 Änderungen, über die als Paket (nicht im Einzelnen) bei der Volksbefragung entschieden wurde.[15]
Neben der Verfassungsänderung, die es Wladimir Putin bei gewonnenen Wiederwahlen ermöglicht, bis 2036 im Amt zu bleiben, ist unter anderem über folgende Verfassungsänderungen abgestimmt worden:[16]
- Vorrang der russischen Verfassung vor dem Völkerrecht
- Der Föderationsrat erhält das Recht, dem Präsidenten Abberufungen von Bundesrichtern vorzuschlagen. Andererseits hat der Föderationsrat, auf Vorschlag des Präsidenten, Richter der Verfassung- und Obersten Gerichte abzuberufen.
- Minister, Richter, Regionalleiter dürfen zum Zeitpunkt ihrer Tätigkeit im Amt keine ausländische Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis besitzen.
- Präsidentschaftskandidaten müssen die vorherigen 25 Jahre in Russland gelebt haben und dürfen nie eine ausländische Aufenthaltserlaubnis, einen Erstwohnsitz im Ausland und eine ausländische Staatsbürgerschaft besessen haben.
- Rechtszuteilung, nach der die Staatsduma über die Kandidatur von Ministerpräsidenten und Bundesrichtern sowie ihrer Stellvertreter entscheiden kann, die der Präsident dann anzunehmen hat. (Der Präsident kann sie jedoch in bestimmten Fällen aus dem Amt entfernen.)
- Minister, die Leiter von Strafverfolgungsbehörden sind, haben vom Präsidenten in Absprache mit dem Föderationsrat ernannt zu werden.
- Regelmäßige Indexierung der Renten
- Bekenntnis zu Gott
- Verbot des Unterschreitens des Mindestlohnes gegenüber dem Existenzminimum
- Definierung der Ehe als alleiniges Bündnis zwischen Mann und Frau[17][18][19]
- Festschreibung der Geschichtsinterpretation durch Verbot der ‚Geschichtsfälschung‘ in der Verfassung[20][21]
Für die vorgeschlagene Novellierung der russischen Verfassung waren 77,9 Prozent abgegebenen Stimmen, dagegen waren 21,27 Prozent. Die Wahlbeteiligung betrug 67,97 Prozent.[22]
Der Ablauf der Abstimmung wurde von Wahlbeobachtern als undemokratisch kritisiert. Viele Stimmberechtigte sollen von ihren Arbeitgebern zur Stimmabgabe gezwungen worden sein.[23] Um eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen, wurden unter den Wählern unter anderem Eigentumswohnungen, Autos, Traktoren, iPhones, Elektroroller, Tablet-Computer, Küchengeräte und Rasenmäher verlost.[13] Diese Gewinne, die über maximal sieben Millionen Glückslose auszuschütten wären, hatten einen Gesamtwert von umgerechnet 126 Millionen Euro.[13] Außerdem war es möglich, sich Wahlhelfer und Wahlurne nach Hause zu bestellen, was eine Wahlbeobachtung erschwerte.[23][13] Erste Ergebnisse der Abstimmung wurden aus manchen Landesteilen bekanntgegeben, als in anderen Landesteilen die Abstimmung noch lief.[24]
Am 3. Juli hat Präsident Putin die Verordnung über die Veröffentlichung des Verfassungstextes mit den eingetragenen Verfassungsänderungen unterschrieben, die am 4. Juli 2020 in Kraft trat.[25]
2022
BearbeitenNach der Russischen Annexion der Süd- und Ostukraine während der Russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022 wurden die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die Oblast Cherson und die Oblast Saporischschja als Föderationssubjekte in die Verfassung aufgenommen.[26]
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Dietrich Frenzke: Die russischen Verfassungen von 1978 und 1993. Eine texthistorische Dokumentation mit komparativem Sachregister. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 1995, ISBN 978-3-87061-435-5
- Angelika Nußberger: Staats- und Verwaltungsrecht. In: Angelika Nußberger (Herausgeberin): Einführung in das russische Recht. Verlag C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-48391-2. S. 19ff.
- Angelika Nußberger: Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge / Band 54, 2006, S. 35–55.
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Конституция Российской Федерации — 15 лет спустя (abgerufen am 14. September 2018).
- ↑ Aurel Croissant, Peter Thiery: Defekte Demokratie. Konzept, Operationalisierung und Messung, in: Hans-Joachim Lauth, Gert Pickel, Christian Welzel (Hrsg.): Demokratiemessung. Konzepte und Befunde im internationalen Vergleich. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2000, ISBN 3-531-13438-8, S. 89–111, hier S. 89.
- ↑ Verfassungsordnung versus politische Realität. In: bpb.de. Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 3. Dezember 2016.
- ↑ Politische Führung in der „Postdemokratie“. In: bpb.de. Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 29. Dezember 2017.
- ↑ Machterhalt im Zeitraffer, FAZ, 15. März 2020
- ↑ Der Abgeordnete, der es als einziger mit Putin aufnimmt, Die Welt, 12. März 2020
- ↑ „Mit einer solchen Verfassung kann ich die Interessen des Volkes nicht schützen.“, Nowaja Gaseta, 14. März 2020
- ↑ „Ich will nicht weiter so leben, bis er stirbt“, Spiegel, 12. März 2020
- ↑ a b Eberhard Schneider: Verfassungsänderungsgesetz, Russlandkontrovers, 4. April 2020
- ↑ Is Vladimir Putin Extending his Russian Authoritarian Regime?, stand, 24, April 2020.
- ↑ Der ewige Putin, SZ, 23, April 2020.
- ↑ Gesetzestext, Artikel 3, Punkt 4
- ↑ a b c d Christian Esch, Der Spiegel: Russland: Wladimir Putin und die seltsame Volksabstimmung über die Verfassung – Der Spiegel – Politik. Abgerufen am 1. Juli 2020.
- ↑ Welche solche Verfassung?, Nowaja Gaseta, 26. April 2020; Kommentar: „Dekoration“
- ↑ tagesschau.de: Analyse: Wie Putin seine Macht festigt. Abgerufen am 2. Juli 2020.
- ↑ Fünf Schlüsselmomente in Wladimir Putins politischer Karriere Tagesspiegel, 1. Juli 2020
- ↑ Andrew E. Kramer: Putin Proposes Constitutional Ban on Gay Marriage. In: The New York Times. 3. März 2020, abgerufen am 8. Juni 2020: „By including an amendment defining marriage as between a man and a woman, "they are reinventing the vote as a referendum for traditional values," said Ekaterina Schulmann, a Moscow-based political scientist.“
- ↑ Putin submits plans for constitutional ban on same-sex marriage. In: the Guardian. 2. März 2020, abgerufen am 8. Juni 2020 (englisch): „“For me, the most important proposal would fix the status of marriage as a union between a man and a woman,” Pyotr Tolstoy, a vice-speaker in the Duma, told reporters“
- ↑ Putin Proposes to Enshrine God, Heterosexual Marriage in Constitution. In: The Moscow Times. 2. März 2020, abgerufen am 8. Juni 2020 (englisch): „Putin's fourth stint in the Kremlin has seen a strong pivot to more conservative policies, with groups promoting fundamentalist Orthodox Christian views gaining more legitimacy and liberal viewpoints attacked as Moscow's relations with the West have soured.“
- ↑ Putin hielt es für angebracht, dass in der Verfassung ein akkurates Verbot der Geschichtsfälschung ihre Entsprechung findet, Interfax. 26. Februar 2020
- ↑ Die russische Deutung der Geschichte: Im vergangenen Sieg leuchtet die Gegenwart, NZZ, 9. Mai 2020
- ↑ Wie Putins 78-Prozent-Erfolg zustande kommt. Abgerufen am 3. Juli 2020.
- ↑ a b Deutsche Welle (www.dw.com): Referendum in Russland: Was stimmt nicht? | DW | 1. Juli 2020. Abgerufen am 2. Juli 2020 (deutsch).
- ↑ Deutsche Welle (www.dw.com): Verfassungsänderung in Russland: Putin auf Lebenszeit | DW | 1. Juli 2020. Abgerufen am 2. Juli 2020.
- ↑ Указ Президента Российской Федерации от 03.07.2020 № 445 ∙ Официальное опубликование правовых актов ∙ Официальный интернет-портал правовой информации. Abgerufen am 3. Juli 2020.
- ↑ Конституция России ∙ Документы ∙ Президент России. Abgerufen am 29. Dezember 2023 (russisch).