Veza Canetti
Veza Canetti (geboren am 21. November 1897 in Wien als Venetiana Taubner; gestorben 1. Mai 1963 in London) war eine österreichische Dichterin und Übersetzerin. Ihre Eltern waren Hermann Taubner und Rahel Taubner geb. Calderon. Verheiratet war Veza Canetti seit 1934 mit dem nachmaligen Nobelpreisträger Elias Canetti.
Viele ihrer Kurzgeschichten erschienen in den 1930er Jahren in der Wiener Arbeiter-Zeitung und zeitgleich in der sozialistischen Presse im In- und Ausland. Veza Canetti schrieb Theaterstücke und Romane, die vor, während und vor allem auch nach dem Zweiten Weltkrieg trotz vieler Bemühungen von ihr und ihrem Umfeld nicht veröffentlicht werden konnten. Ihre Wiederentdeckung hingegen knapp dreißig Jahre nach dem Tod führte zur erfolgreichen Publikation ihrer Kurzgeschichten, Romane und Theaterstücke im Hanser Verlag.
Leben
BearbeitenVenetiana Taubner war die Tochter einer sephardischen Mutter und eines ungarisch-jüdischen Vaters, die zunächst in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Bezirk, in der Ferdinandstraße lebte. Diese solle ihr später als Inspiration für die Kurzgeschichten des Bandes Die gelbe Straße gedient haben. Nach dem Ersten Weltkrieg war die hoch begabte Literaturkennerin zunächst als Englischlehrerin und Übersetzerin tätig.[1] 1924 begegnete sie dem späteren Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, den sie 1934 heiratete.
Veza Canetti gehörte zum engeren Kreis um Karl Kraus, stand aber gleichzeitig dem Austromarxismus nahe. In der Wiener Arbeiter-Zeitung erschien im November 1933 ihre Erzählung Der Kanal.[2] Veza Canetti publizierte im Malik-Verlag[3] und in Exilzeitschriften unter den Pseudonymen Veronika Knecht, Martha Murner, Martina Murner und Veza Magd. Unter letzterem Pseudonym erschienen ihre Übersetzungen aus dem Englischen. Ernst Fischer habe den Kontakt zum Malik-Verlag hergestellt.[4]
Ihre eigenen Romane fanden zu ihren Lebzeiten keinen Verleger; die Manuskripte zu einem Roman über Kaspar Hauser und zum Thema „Die Genießer“ hat sie zerstört. Der erhaltene Roman Die Schildkröten ist autobiographisch geprägt und verarbeitet ihre Flucht nach England. Zwei weitere Romane Die Kunstblume und The Response sowie zwei Theaterstücke gelten als verschollen.[5]
Über Jahrzehnte hinweg war Veza Canetti die literarische Ratgeberin ihres Mannes, dessen Werke sie im Exil lektorierte. Inwieweit dieser ihre eigene literarische Tätigkeit gefördert hat, ist umstritten. Als Germanisten in den 1980er Jahren auf das schmale publizierte Werk Veza Canettis aufmerksam wurden, behauptete Elias Canetti, seine (um acht Jahre ältere) Gattin habe, durch ihn angeregt, 1931 zu schreiben begonnen, und gab ab 1990 einige Manuskripte aus ihrem Nachlass zur Publikation frei – in seiner dreibändigen Autobiografie ist allerdings von Vezas eigener schriftstellerischer Arbeit nicht die Rede. In seinem Nachlass befinden sich Entwürfe zu Kapiteln dieses Werkes, in denen er ausführlich auf ihre literarische Tätigkeit eingeht. Er meinte, letztendlich ihr Schreiben nicht besprechen zu können, ohne sie als gescheitert darzustellen, was er unbedingt zu vermeiden suchte. Das Verhältnis Vezas zu ihrem erst nach ihrem Tod berühmt gewordenen Mann gilt als ein schwieriges, nicht zuletzt wegen seiner häufigen und intensiven Beziehungen zu anderen Frauen. Mit jenen war sie jedoch oftmals, wie auch im Falle der Künstlerin Anna Mahler, befreundet.[6] Zudem kamen Diskussionen darüber auf, ob er Veza zu Abtreibungen genötigt habe.[7]
Veza Canetti hatte ihren linken Arm als Jugendliche bei einem Unfall mit einem Pferd verloren.[8] Was für sie mitunter Grund gewesen sei, gesellschaftliche Treffen, zu denen ihr Mann und sie eingeladen wurden, aus Scham zu meiden.[9]
Veza Canetti starb 1963 in London, wo sie und ihr Mann seit dem „Anschluss Österreichs“ 1938 lebten. Zu ihrem Freundeskreis im Exil gehörten auch H. G. Adler und Erich Fried.[10]
Gerüchte, denen zufolge sie Selbstmord begangen habe, beruhen nicht auf Tatsachen, sondern beziehen sich anscheinend auf Bemerkungen, die sie zu Lebzeiten gegenüber ihrem Mann geäußert haben soll.[11] Sie wollte nach 1945 auf keinen Fall nach Wien zurück, denn dort würden die Nazis „bald alle jüdische Pässe haben“, so urteilte sie über ihre Landsleute.
Ehrungen
Bearbeiten- Der Veza-Canetti-Park in Wien-Leopoldstadt wurde 2003 nach ihr benannt.[12]
- Gedenkplakette zu ihren Ehren: „Die Wahrheit darin ist verschüttet.“ Wien-Leopoldstadt, Ferdinandstraße 29 (Widmungstafel an ihrem Schreibhaus), Einweihung am 6. Mai 2013.[13]
- Veza-Canetti-Preis der Stadt Wien seit 2014, Literaturpreis, dotiert mit jährlich 10.000 Euro.
- Die Münze Österreich gab 2024 eine 50-Euro-Goldmünze der Serie „Heimat großer Töchter“ mit dem Porträt Canettis aus.[14]
Werke
Bearbeiten- Neuausgaben im Carl Hanser Verlag, München
- Die gelbe Straße. Roman, 1990.
- Der Oger. Ein Stück, 1991.
- Geduld bringt Rosen. 1992.
- Die Schildkröten. Roman, 1999.
- Der Fund. Erzählungen und Stücke. 2001.
- mit Elias Canetti: Briefe an Georges. Hanser, München 2006, ISBN 3-446-20760-0.[15]
Übersetzungen
Bearbeiten- Graham Greene: Die Kraft und die Herrlichkeit. Ins Deutsche übers. von Veza Magd, Heinemann & Zsolnay, London 1947.
Literatur
Bearbeiten- Jeremy Adler: „Employment agency where girls are inspected and sold“. In: The European. Weekend, 22.–24. Juni 1990, S. 3–4.
- Vreni Amsler: Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Königshauses & Neumann, Würzburg 2017 (=Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 869).
- Vreni Amsler: Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Studienverlag 2020.
- Vreni Amsler: Veza Canetti – Bildbiografie. Orte und Artefakte. Studien-Verlag, Innsbruck 2023, ISBN 978-3-7065-6330-7.
- Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Veza Canetti. Text und Kritik, München 2002.
- Miriam Bertocchi: La lingua salvata di Veza Canetti. Vita e opere di una scrittrice viennese. Cuem, Mailand 2006, ISBN 88-6001-031-4
- William Collins Donahue: In Her Own Words. Veza Canetti’s Briefe an Georges (Letters to Georges). In: andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies, 2, 2011, 1, S. 81–98.
- Bettina Engelmann: Sprachverstörung nach dem „Anschluss“ – Veza Canetti: „Die Schildkröten“. In: Dies. (Hrsg.): Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Niemeyer, Tübingen 2001, S. 309–221.
- Simona Fabbris: Veza Taubner-Calderon. Strategie di eccentricità. Doktorarbeit. 2014; core.ac.uk (PDF; 2,3 MB)
- Gaby Frank: Veza Canetti. In: Britta Jürgs (Hrsg.) „Leider hab ich’s Fliegen ganz verlernt.“ Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Aviva, Berlin 2000, ISBN 3-932338-09-X.
- Urte Helduser: Miszellaneität als Erzählverfahren. Veza Canettis Fortsetzungserzählungen in der Wiener Arbeiter-Zeitung. In: Miszellanes Lesen − Miszellanes Lesen. Reading Miscellanies − Miscellaneous Readings, hg. v. Nicolas Pethes/Daniela Gretz /Marcus Krause. Hannover 2021 (i.Dr.).
- Alexander Košenina: „Wir erheben uns über das Land und verlassen es mit Verachtung.“ Veza Canettis Exilroman „Die Schildkröten“. In: Reiner Wild (Hrsg.): Dennoch leben sie. Verfremte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. Edition Text + Kritik, Bobingen 2003, S. 77–86.
- Natalie Lorenz: Texte im Dialog. Die frühen Theaterstücke von Marieluise Fleißer und Veza Canetti. Lang, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-631-56754-8
- Eva M. Meidl: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Lang, Frankfurt am Main 1998, ISBN 978-3-631-33269-6
- Evelyn Patz Sievers: „Ich bin Spaniolin.“. Veza Canetti im Fokus ihres jüdisch-sephardischen Erbes. Lehmweg, Hamburg 2018, ISBN 978-3-943537-07-9
- Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti: Out of the Shadows of a Husband. Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3.
- Sophie Reyer: Veza Canetti. Eine Biographie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, ISBN 978-3-8260-6675-7.
- Gerhild Rochus: Canetti, Veza. In: Andreas B. Kilcher (Hrsg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02457-2, S. 100–102.
- Angelika Schedel: Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Epistemata, Band 378. Königshausen und Neumann, Würzburg 2002, ISBN 978-3-8260-2166-4
- Sandra Schwarz: Veza Canetti. „Die Schildkröten“. In: Dies (Hrsg.): „Phönix aus der Asche“. Werkbeispiele aus der Salzmann-Sammlung der verb(r)kannten Bücher in der Universitätsbibliothek Augsburg. Universität Augsburg, Augsburg 2014, S. 5–12.
- Ingrid Spörk, Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Veza Canetti. Verlag Droschl, Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz 2005, ISBN 3-85420-685-2. (ausführliche Bibliografie, darin: Jenseits der Bildung: Veza Canetti als jüdische Schriftstellerin in Wien)
- Moritz Wagner: Veza Canetti. „Die Schildkröten“ (1939). In: Ders. (Hrsg.): Babylon – Mallorca. Figurationen des Komischen im deutschsprachigen Exilroman. Metzler, Stuttgart 2017, S. 211–282 (=Schriften zur Weltliteratur; 6). ISBN 978-3-476-04527-0
- Edda Ziegler: Magd und Knecht: Veza Canetti. In: Verboten, verfemt, vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. dtv, 2010, ISBN 978-3-423-34611-5, S. 153–157.
Weblinks
Bearbeiten- Literatur von und über Veza Canetti im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Gaby Frank: Porträt von Veza Canetti. ( vom 21. August 2011 im Internet Archive) (gekürzte Fassung aus der Anthologie von Britta Jürgs)
- Veronika Hofeneder: Porträtmodul zu Veza Canetti. litkult1920er.aau.at, ein Projekt der Universität Klagenfurt.
- Bernhard Wenzl: Vertrieben und verschwiegen: Vor 60 Jahren verstarb Veza Canetti. Wiener Zeitung, 30. April 2023
- Veza Canetti, 1952. veza.klingt.org
- Veza Canetti in der Deutschen Biografie
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 1.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 17.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-535-3, S. 24.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband Verlag=Camden House. Hrsg.: Julian Preece. Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 59.
- ↑ Amsler 2023, 7, 209, und 254.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, S. 28.
- ↑ Sibylle Mulot: Befreundet mit den Geliebten. In: kulturspiegel. 27. Dezember 2001, abgerufen am 16. Januar 2021.
- ↑ Amsler 2023, 66.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 4.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 13.
- ↑ Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 22.
- ↑ Veza-Canetti-Park im Wien Geschichte Wiki der Stadt Wien
- ↑ VEZALEBT – Veza Canetti, ein spätes Jubiläum in Wien. Abgerufen am 17. Jänner 2024
- ↑ Goldmünze Veza Canetti, Schriftstellerin. Münze Österreich, abgerufen am 17. Jänner 2024
- ↑ Briefe an Georges bei Hanser ( vom 18. Mai 2014 im Internet Archive) (PDF; 71 kB)
Personendaten | |
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NAME | Canetti, Veza |
ALTERNATIVNAMEN | Taubner-Calderon, Venetiana (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | österreichische Schriftstellerin und Übersetzerin |
GEBURTSDATUM | 21. November 1897 |
GEBURTSORT | Wien |
STERBEDATUM | 1. Mai 1963 |
STERBEORT | London |