Volumenviskosität

Zähigkeitskoeffizient von Gasen oder Flüssigkeiten

Die Volumenviskosität, der Zähigkeitskoeffizient oder die zweite Viskosität (Formelzeichen oder , Dimension M·L−1·T−1, Einheit Pa·s) bezeichnen die Viskosität von Fluiden bei Volumenänderungen. Bei einer endlichen Volumenänderung ist in einem Fluid mit gleichförmiger Temperaturverteilung die Volumenviskosität verantwortlich für die Energiedissipation.[1]

In der Praxis kann bei einatomigen Gasen und nicht zu hohen Drücken von der Stokes’schen Hypothese ausgegangen werden, die fordert. Auch bei angenommener Inkompressibilität kann die Volumenviskosität vernachlässigt werden. Auch eine von Null verschiedene Volumenviskosität führt unter Normalbedingungen nicht zu sehr auffälligen Effekten.[2]

Einen nennenswerten Einfluss hat die Volumenviskosität jedoch in Flüssigkeiten mit Gasblasen, in Stoßwellen und bei der Schallausbreitung. Einige Fluide, insbesondere Kohlenstoffdioxid, besitzen Volumenviskositäten, die über tausend Mal größer sind als ihre Scherviskositäten,[3] was in solchen Gasen einen Einfluss auf die hydrodynamische Grenzschicht bei Überschallströmungen hat.[4] Die Volumenviskosität verdünnter, mehratomiger Gase spielt beim Eintritt in planetarische Atmosphären eine Rolle.[5]

Definition

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Bei der reinen Kompression oder Expansion von Gasen tritt die Volumenviskosität auf als Ursache einer in allen Richtungen wirkenden Normalspannung

 ,

die neben dem mechanischen Druck   wirkt:[6]

 .

Dabei ist

Die Divergenz der Geschwindigkeit ist gemäß   ein Maß für die Volumenänderungsgeschwindigkeit eines (infinitesimal) kleinen Volumenelements  . Das begründet wegen der gleichbleibenden Masse   des Volumenelements die Massenbilanz

 

die in obiger Definitionsgleichung eingesetzt wurde.

In einem newtonschen Fluid gilt der Zusammenhang

 

mit

Bei Inkompressibilität verschwindet die Divergenz der Geschwindigkeit, sodass in dem Fall keine Volumenviskosität auftreten kann.

Newtonsche Fluide

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Die Bewegung eines linear viskosen, isotropen newtonschen Fluids gehorcht den Navier-Stokes-Gleichungen

 

Hier ist

Die Navier-Stokes-Gleichungen lassen sich herleiten aus folgendem Materialmodell der klassischen Materialtheorie:

 

Hier bezeichnet

 
In diesem Tensor sind   die Geschwindigkeitskomponenten der Fluidelemente in  -,  - bzw.  -Richtung eines kartesischen Koordinatensystems.
  •   die Spur; die Spur des Verzerrungsgeschwindigkeits-Tensors ist die Divergenz der Geschwindigkeit:
 
  • das hochgestellte   den Deviator.

Aus obigen Modellgleichungen lässt sich ableiten, dass  .

Die in der Definition auftretende Normalspannung   ist Bestandteil des mechanischen Drucks  , der das negative Drittel der Spur des Spannungstensors ist:

 

Hier wurde benutzt, dass die Spur des Einheitstensors gleich der Raumdimension ist und dass der Deviator per definitionem spurfrei ist.

Die fluiddynamische Grenzschicht ist bedeutsam in Strömungen viskoser Fluide. In der sie behandelnden Grenzschichttheorie werden Normalspannungen gegenüber den Scherspannungen vernachlässigt, weswegen die Volumenviskosität in der Grenzschicht nicht gebraucht wird.[8] Neuere Untersuchungen zeigen jedoch einen nennenswerten Einfluss einer hohen Volumenviskosität auf die Grenzschicht bei Überschallströmungen.[4]

Reine Ausdehnung

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Bei einer reinen Ausdehnung weg vom Ursprung habe das Geschwindigkeitsfeld die Form   mit einem Proportionalitätsfaktor  . Der Geschwindigkeitsgradient ist dann wegen des symmetrischen Gradienten   und

 

gleich dem Verzerrungsgeschwindigkeitstensor.

Mit   berechnet sich der Spannungstensor zu

 

Die spezifische Spannungsleistung an den Verzerrungsgeschwindigkeiten ist definiert als

 .

Der Doppelpunkt „:“ bildet dabei das Frobenius-Skalarprodukt zweier Tensoren   und   mittels

 

worin das hochgestellte   die Transposition bedeutet.

Bei reiner Ausdehnung berechnet sich die spezifische Spannungsleistung daher zu:

 

Der erste, zum Druck proportionale Anteil der Leistung ist reversibel, der zweite ist irreversibel und wird dissipiert.[1]

Stokessche Hypothese

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Die Stokes’sche Hypothese besagt:

„in the case of a uniform motion of dilatation the pressure at any instance depends only on the actual density and temperature at that instant, and not on the rate at which the former changes with time (englisch im Fall einer gleichförmigen Ausdehnungsbewegung hängt der Druck zu jedem Zeitpunkt nur von der aktuellen Dichte und Temperatur zu diesem Zeitpunkt ab und nicht von der Rate, mit der erstere sich mit der Zeit ändert.)“

George Gabriel Stokes (1845)[9]

Diese Hypothese wurde bereits 1843, also zwei Jahre vor Stokes, in ähnlicher Weise von Barré de Saint-Venant formuliert.[10]

Aus dem bei newtonschen Fluiden gültigen Zusammenhang

 

und obiger Hypothese folgt unmittelbar

 

Mit den oben zusammen getragenen Tatsachen ergeben sich aus der Hypothese die folgenden gleichwertigen Aussagen über newtonsche Fluide:

  1. Im Fall einer gleichförmigen Ausdehnungsbewegung   hängt der Druck zu jedem Zeitpunkt nur von der aktuellen Dichte und Temperatur zu diesem Zeitpunkt ab.
  2. Eine reine Volumenänderung ist reversibel.
  3. Der thermodynamische Druck und der mechanische Druck stimmen überein.

Die Messung der Volumenviskosität ist so schwierig, dass es Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht gelungen ist, die Gültigkeit dieses Postulats bei einatomigen Gasen experimentell zu prüfen.[11]

Folgerungen aus der kinetischen Gastheorie

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Die Chapman-Enskog-Entwicklung der Boltzmann-Gleichungen der kinetischen Gastheorie führen auf die Navier-Stokes-Gleichungen mit verschwindender Volumenviskosität, also  .[12] Diese Entwicklung basiert auf einer Verteilungsfunktion, die nur von der Geschwindigkeit der Teilchen abhängt, also deren Rotationsdrehimpuls vernachlässigt. Dies ist in einatomigen Gasen bei niedrigem bis mittlerem Druck eine probate Annahme.[13]

Bei mehratomigen Gasen dagegen darf der Rotationsdrehimpuls nicht vernachlässigt werden, denn bei ihnen kann Energie zwischen der Translationsbewegung und den molekularen Bewegungen, d. h. den Rotations- und Vibrationsbewegungen, ausgetauscht werden, was auf eine positive Volumenviskosität führt.

Zur Charakterisierung des Zustands mehratomiger Gase im Nicht-Gleichgewicht ist daher eine verallgemeinerte Verteilungsfunktion (Dichteoperator) zu benutzen, die nicht nur von der Geschwindigkeit der Teilchen abhängt, sondern auch von ihrem Rotationsdrehimpuls. Dementsprechend ist auch die Boltzmann-Gleichung durch eine verallgemeinerte kinetische Gleichung (die Waldmann-Snider-Gleichung) zu ersetzen. Aus ihr kann eine Temperaturrelaxationsgleichung hergeleitet werden, die auf folgenden Ausdruck für die Volumenviskosität führt:

 

Darin ist

  •   die Teilchendichte
  •   die Boltzmann-Konstante
  •   die spezifische Wärmekapazität
  •   die spezifische Wärmekapazität, die nur aus den molekularen Bewegungen resultiert,
  •   die Temperatur
  •   die Stoßfrequenz.

Weil die Stoßfrequenz proportional zur Teilchendichte ist, ist die Volumenviskosität unabhängig von der Teilchendichte und damit vom Druck des Gases.

Für einatomige Gase ist wegen   wieder  .

Bei gegebener Kapazität   ist die Volumenviskosität umso größer, je kleiner die Stoßfrequenz   ist, d. h. je seltener bei Stößen ein Austausch zwischen der Translations- und intramolekularen Energie stattfinden kann. Deshalb ist das Verhältnis   bei Wasserstoff größer als für Stickstoff.[13]

Für die Messung der Volumenviskosität eines Fluids eignen sich akustische Spektrometer,[14][15] da nach der klassischen Theorie von Gustav Robert Kirchhoff für ebene Schallwellen in Medien mit nicht zu großer Viskosität der Absorptionskoeffizient der Amplitude pro Längeneinheit von der Volumenviskosität abhängt:

 

mit

Den Hauptbeitrag zur Absorption stellt der erste Summand bei Flüssigkeiten wegen   stets, bei Gasen in der Regel.[2]

Mit weiteren Methoden konnte die Volumenviskosität einer Vielzahl von Fluiden bestimmt werden:[10]

Einzelnachweise

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  1. a b Hermann Schlichting, Klaus Gersten: Grenzschicht-Theorie. Springer, Berlin 1997, ISBN 978-3-662-07555-5, S. 69 ff. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. a b Josef Meixner: Prinzipien der Thermodynamik und Statistik. In: S. Flügge (Hrsg.): Handbuch der Physik. Band III/2. Springer, 1959, ISBN 978-3-642-45912-2, S. 477 ff. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. M. S. Cramer: Numerical estimates for the bulk viscosity of ideal gases. In: Physics of Fluids. Band 24, Juni 2012, doi:10.1063/1.4729611 (englisch).
  4. a b George Emanuel: Effect of bulk viscosity on a hypersonic boundary layer. In: Physics of Fluids. Band 4, 1992, doi:10.1063/1.858322 (englisch).
  5. G. Emanuel: Bulk viscosity of a dilute polyatomic gas. In: Physics of Fluids. Band 2, 1990, doi:10.1063/1.857813 (englisch).
  6. Fritz Kurt Kneubühl: Repetitorium der Physik. Vieweg+Teubner Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 978-3-322-84886-4 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Franco M. Capaldi: Continuum Mechanics: Constitutive Modeling of Structural and Biological Materials. Cambridge University Press, 2012, ISBN 978-1-107-01181-6, S. 157 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. Mohamed Gad-el-Hak: Stokes’ Hypothesis for a newtonian, isotropic fluid. (PDF) 1. März 1995, abgerufen am 2. April 2017 (englisch).
    oder
    Mohamed Gad-el-Hak: Questions in Fluid Mechanics. Stokes’ Hypothesis for a newtonian, isotropic fluid. In: American Society of Mechanical Engineers (Hrsg.): Journal of Fluids Engineering. Band 117, Nr. 1, 1. März 1995, S. 3–5 (englisch, fluidsengineering.asmedigitalcollection.asme.org [abgerufen am 5. April 2017]).
  9. G. G. Stokes: On the Theories of Internal Friction of Fluids in Motion. In: Transactions of the Cambridge Philosophical Society. Band 8, 1845, S. 294 f. (archive.org – Stokes bezeichnet die Volumenviskosität mit κ).
  10. a b R. E. Graves, B. M. Argrow: Bulk viscosity: Past to Present. In: Journal of Thermophysics and Heat Transfer. Band 13, Nr. 3, 1999, S. 337–342, doi:10.2514/2.6443.
  11. Heinz Schade, Ewald Kunz, Frank Kameier, Christian Oliver Paschereit: Strömungslehre. Walter de Gruyter, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-029223-7, S. 197 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  12. Sydney Chapman, T. G. Cowling: The Mathematical Theory of Non-uniform Gases. An Account of the Kinetic Theory of Viscosity, Thermal Conduction and Diffusion in Gases. Cambridge University Press, 1970, ISBN 978-0-521-40844-8.
  13. a b Bergmann, Schaefer: Lehrbuch der Experimentalphysik. Gase Nanosysteme Flüssigkeiten. Hrsg.: Thomas Dorfmüller, Karl Kleinermanns. 2. Auflage. Band 5. Walter de Gruyter, Berlin 2006, ISBN 978-3-11-017484-7, S. 45 ff. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  14. K. U. Kramm: Messungen an Fluiden mit einem akustischen Spektrometer. 25. September 2009, doi:10.1524/teme.70.11.530.20272.
  15. Patent DE102006003649B4: Verfahren und Einrichtung zur Qualitätsüberwachung von technischen Einkomponenten und Mehrkomponentenflüssigkeiten mittels Ultraschall On-Line Messungen ihrer Viskosität, Dichte, Kompressibilität und Volumenviskosität. Angemeldet am 26. Januar 2006, veröffentlicht am 19. März 2009, Anmelder: Mihail Gitis.
  16. Th. Dorfmüller, G. Fytas, W. Mersch: Brillouinspektroskopie von relaxierenden Flüssigkeiten. Teil I. 1976, doi:10.1002/bbpc.19760800503.
  17. George Emanuel: Linear dependence of the bulk viscosity on shock wave thickness. In: Physics of Fluids. Band 24, Mai 1994, doi:10.1063/1.868102 (englisch).
  18. H. Gonzalez, G. Emanuel: Effect of bulk viscosity on Couette flow. In: Physics of Fluids. Band 5, 1993, doi:10.1063/1.858612 (englisch).