Mit die häufigsten Leserfragen im Testbetrieb des wegen Erfolglosigkeit wieder abgeschalteten Artikel-Feedback-Tool waren verblüffenderweise Fragen nach dem Alter oder gar dem Geburtsdatum der beschriebenen Person, also Fragen nach Informationen, die in jedem Biografieartikel im Einleitungssatz beantwortet werden. Aus dieser Tatsache ließen sich sicher interessante Einsichten gewinnen in
- die Lesekompetenz oder Befähigung zu einfachen Grundrechenarten mancher Leser,
- ihre mangelnde Selbständigkeit, lieber etwas passiv eingesagt zu bekommen als es sich aktiv anzueignen,
- die Verständlichkeit der genealogischen Zeichen, die nach Meinung nicht weniger im Projekt den Autoren ausnahmslos verbindlich vorgeschrieben werden müssen.
An dieser Stelle soll es aber um einen anderen Aspekt gehen, nämlich: Warum wird die Frage nach dem Alter oder dem Geburtsdatum einer Person überhaupt so häufig gestellt? Abgesehen vom obsessiven Verhältnis vieler Jugendlicher zum Thema Alter (die häufigsten und auch mit dicken Hinweisen kaum zu vermeidenden Änderungen in Artikeln zu Kinder-/Jugendliteratur sind geänderte Alter ihrer jugendlichen Protagonisten) ist es doch für das, was eine Person enzyklopädisch Relevantes geleistet hat, völlig egal, ob sie zehn Jahre älter oder jünger ist, ob sie im Februar oder im September geboren ist, ob sie vor 113 oder 127 Jahren gestorben ist. Steckt hinter der Frage nach den konkreten Lebensdaten nicht vielmehr der Wunsch, Leben und Wirken einer Person historisch eingeordnet zu bekommen? Ist die Altersfrage also nur eine Verlegenheitsfrage, weil man ohne zumindest oberflächliche Kenntnis einer Person die eigentlich interessanten Fragen nach ihrem Leben und Wirken gar nicht stellen kann?
Es ist also nur scheinbar im Interesse der Leser, die simplen Informationen, die sich aus einer Datenbank generieren lassen, strukturiert per Infobox aufzubereiten, und ihn mit solch knappen „Antworten“ auf die vermeintlich häufigsten Fragen einfach wieder wegzuschicken, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, überhaupt erst zu erfahren, was es zum Artikelthema zu wissen und damit zu fragen gäbe. Im Gegenteil ist es die vordringlichste Aufgabe einer Enzyklopädie, den Leser überhaupt in die Lage zu versetzen, die Fragen, an denen er eigentlich interessiert wäre, herauszufinden – und erst im Folgeschritt ihm bei ihrer Beantwortung zu helfen. Gute Artikel leisten das mit einer Artikeleinleitung, die über den nichtssagenden Satz zu Lebensdaten, Nationalität und Beruf (siehe Wikipedia:Formatvorlage Biografie) hinausgeht und Leben und Wirken einer Person für den Leser einordnet.
Das Beste, was eine solche Artikeleinleitung erreichen kann, ist im Leser Interesse zu wecken, sprich Fragen entstehen zu lassen, die ihm vor Aufruf des Artikels vollkommen unbekannt waren und denen er jetzt durch eine eingehendere Lektüre des Artikels (oder auch nur der für ihn interessanten Teile) weiter nachspürt. Und das Beste, was ein Artikel insgesamt erreichen kann, ist nicht, simple Fragen zu beantworten, sondern Fragen aufzuwerfen, die den Leser auch über den Aufruf des Artikels hinaus beschäftigen werden. Ein guter medizinischer Artikel etwa kann keinem Leser die Frage beantworten, woran er erkrankt ist, aber er kann den Leser soweit über die Hintergründe einer Krankheit aufklären, dass er befähigt ist, einem Arzt die richtigen Fragen zu stellen. Ein guter Artikel zu einem literarischen/musikalischen/cineastischen Werk ist nur einer, der im Leser die Lust erweckt, das Werk selbst zu studieren und sich eine eine eigene Meinung dazu zu bilden.
Zu jedem Ort der Welt geben Karten, Datenbanken oder Fotografien nur unzureichende Informationen. Wie es dort ist, erfahre ich erst, wenn ich dorthin reise. Und das sollten gute Artikel sein: Einladungen zu einer Reise, einer Reise, die vielleicht mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet, aber durch die ich überhaupt erst gelernt habe, die Fragen zu stellen, die mich fortan in meinem Leben begleiten.