Die Willkommenskultur in der Wikipedia ist bekanntermaßen nicht gerade auf dem höchsten Niveau, so dass man sich als Neuling oft eher un- als willkommen, erwünscht, gebeten fühlt, siehe Warum ich Artikel schreibe. So ist es dann auch kein Wunder, dass ich, als ich meine erste größere Arbeit für die Wikipedia stolz auf der Hauptseite vorgestellt sah, gleich Bekanntschaft mit einem typischen Phänomen dieses Projektes machen durfte: der Sprachmäkelei. Und schon damals war der Tenor: gefühltes Sprachgefühl von selbst ernannten Puristen schlägt jeden Duden.
Die Bekanntschaft verfestigte sich in der Zeit, als ich die Hauptseite beobachtete, um zeitnah Fehler zu korrigieren, was zu dieser Zeit noch Admin-Rechte erforderte. Rund ein Viertel bis ein Drittel der – gerne mit vielen Ausrufezeichen dringlich gemachten und mit Beschimpfungen gegen die Wikipedia und ihre Autoren garnierten – Meldungen hatte keine sachliche Grundlage außer dem persönlichen Sprach- oder Stilempfinden des Melders. Was ich übrigens nicht nach meinem eigenen beurteilte, das sich häufig als ebenso fehlbar erwies, sondern nach Konsultation von Wörterbüchern oder Sprachratgebern, denn einen administrativen Eingriff in den Text eines anderen hielt und halte ich nur in zweifelsfreien Fällen für gerechtfertigt und keinesfalls wegen einer Geschmacksfrage.
Es ist ein Phänomen, das man auch bei Artikelbearbeitungen beobachten kann: Obwohl der Korrektor sich offensichtlich selbst nicht gut auskennt (jedenfalls nicht so gut, wie er es meint), „korrigiert“ er in voller Überzeugung oder verfasst einen langen Diskussionsbeitrag, anstatt sich zuerst zu informieren, ob es ja vielleicht sogar denkbar ist, dass der Artikelautor sich etwas gedacht hat oder schlicht richtig liegt. Und er lässt sich dann auch durch Erklärungen und Belege nicht davon abbringen, dass er Recht hat, alle anderen Unrecht haben oder es zumindest ein allgemeiner Verfall der guten Sitten ist, wenn dem nachweisbar nicht so ist.
Denn das Sprachempfinden geht oft einher mit persönlichen Prägungen und allgemeinen Weltanschauungen. Da lehnt der Nicht-Studierte zu viele Fachbegriffe und Fachbegriffe ebenso ab, wie der Akademiker zu viel Umgangssprache, der junge Leser stößt sich an veralteten Formulierungen wie der Leser gesetzten Alters an Slang und Jugendsprache. Vorbehalte gegen Lehnworte aus Fremdsprachen, besonders das verhasste Denglisch, gehen oft einher mit dem Wunsch, die vertraute Welt gegen fremde Einflüsse abzuschotten, Vorbehalte gegen sprachlichen Wandel mit ebensolchen gegen gesellschaftlichen Wandel. Auf das Thema generisches Maskulinum und geschlechtergerechte Sprache will ich hier gar nicht eingehen – der Bezug zu gesellschaftlichen Verteilungskämpfen ist offensichtlich.
Als jemand, der sich bekanntermaßen für die Freiheit von Autoren (sprechen wir das böse Wort ruhig aus, von „Hauptautoren“, siehe Wer hat Angst vorm Hauptautor?) bei der Artikelgestaltung einsetzt, setze ich mich auch dafür ein, ihnen so viele sprachliche Freiheiten zu lassen, wie sich mit unseren Grundprinzipien („Wikipedia ist eine Enzyklopädie“) und den Regeln zur Rechtschreibung vereinbaren lassen. Und das bedeutet eben auch: Sie dürfen anders schreiben, als ich das selbst tun würde. Einer der schlausten Köpfe der Wikipedia hat einmal bezüglich der genealogischen Zeichen begründet: Gerade weil er sie verwenden möchte, setzt er sich für die Freiheit anderer ein, sie nicht zu verwenden.
Die Liste meta:Wörter, die nicht in Wikipedia stehen sollten ist inzwischen geleert, und das ist auch gut so. Die Gefahr von botartigen Abarbeitungen solcher Ausschluss-Listen ist viel größer als sie bei der stilistischen Überarbeitung eines einzelnen Artikels helfen würden. Die soll nach WP:Korrektoren nämlich „aus der Beschäftigung mit dem jeweiligen Artikel resultieren“, wozu man ihn fürchterlicherweise ja erst einmal lesen muss. Deswegen sind die Empfehlungen in WP:Wie schreibe ich einen guten Artikel#Stil auch eher allgemein gehalten und nicht so detailliert wie das Manual of Style in anderen Sprachversionen. Es mag manchmal unvorstellbar öde Diskussionen kosten, aber die haben sich gelohnt, wenn kein WP:Tipp des Tages mehr vorschreibt, man dürfe nicht „auftauchen“, „wieder“ und/oder „und/oder“ verwenden, sondern: Die Wikipedia lebt von der sprachlichen Vielfalt ihrer ganz unterschiedlichen Autoren. Variatio delectat: Abwechslung erfreut.
Es ist kein Geheimnis, dass freiwillige Mitwirkende in einem Jekami-Projekt nicht zwingend gleichermaßen hohe Kenntnisse im jeweiligen Fachgebiet wie in Wissensvermittlung und sprachlicher Aufbereitung haben müssen. So sind selbstverständlich viele Artikel stilistisch verbesserungswürdig oder sprachlich mangelhaft. Deswegen braucht das Projekt gute Lektoren und Korrektoren. Diese zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass sie den Text als Werk eines anderen verstehen, das sie behutsam anpassen ohne es nach ihrem Geschmack umzuschreiben. Sie begreifen ihre Änderungen als Vorschläge, die zurückgewiesen werden können, und sind dadurch ebenso wenig gekränkt, wie sie den Autor des Artikels in Bearbeitungskommentaren („Deppenleerzeichen“, „Deppenapostroph“) oder auf Diskussionsseiten kränken müssen, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Siehe dazu auch den WP:Kritik-Knigge.
Die Wikipedia braucht beide, Autoren und Korrektoren, aber ohne die Autoren gäbe es die Grundlage überhaupt nicht, auf der sich die Korrektoren einbringen können. Deswegen schließe ich mit einem weiteren Verweis auf WP:Korrektoren: „Im Zweifel respektiere man die Vorlieben desjenigen, der zu einem Artikel inhaltlich am meisten beigetragen hat.“ Diese Zweifel am eigenen Sprach- und Stilempfinden zuzulassen, erfordert Größe. Und sie sollten demjenigen leichter fallen, der einen weniger starken Bezug zum Artikel hat, weniger Zeit und Mühe in seine Erstellung gesteckt hat, weniger eigene Ideen und ja, auch persönliche Präferenzen in Gestaltung und Formulierungen eingebracht hat. Denn am Ende ist Sprache immer vielfältig und die eine, allem anderen überlegene Lösung gibt es nicht.