„Ein Alkoholnebel liegt über der Weltliteratur.“
„Schon zu Öfterem habe ich hier Lust bekommen, eine Abhandlung über das Zechen zu schreiben und es einmal von kulturhistorischer und ethnologischer Seite zu beleuchten.“
Miszellen
BearbeitenI.
Schon die Griechische Literatur beschäftigte sich ausgiebig mit maßlosem Alkoholgenuss. In seinem stilisierten Bericht „Symposion“ („Trinkgelage“) schildert Platon um 380 v. Chr. die Auswirkungen des vorangegangenen Abends:
- „Ich für meine Person kann euch gestehen, daß ich in der Tat noch sehr angegriffen bin von dem gestrigen Zechgelage und einiger Erholung bedarf; ich glaube aber, daß es auch den meisten von euch ebenso gehen wird, denn ihr wart ja gestern auch dabei.“
Bekämpft werden diese Nachwirkungen von den Beteiligten durch erneute leichte Zufuhr von Alkohol, eine noch heute zu findenden Form der Kater-Bekämpfung, wie beispielsweise vom russischen Autor Alexej Slapovsky in „Der Tag des Geldes“ beschrieben:
- „Denn bei der Kateraustreibung - wie überhaupt bei jedem gemeinschaftlichen Suff - war das Wichtigste, überhaupt anzufangen. Der Rest ergab sich, wie sie aus Erfahrung wussten, danach quasi von selbst: Von irgendwo her tauchten irgendwelche Leute auf mit Geld, Wein, Wodka oder Bier, so als seien die ersten armseligen Tropfen Fusel das Öl für die Scharniere jener Tür, die den Weg freigab in eine gänzlich andere Welt, eine Welt, in der keine Probleme und Heimsuchungen lauerten, wo einen hinter jeder Ecke angenehme Überraschungen erwarteten.“
II.
Im von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten Märchen „Rotkäppchen“ schleppt das titelgebende Mädchen eine Flasche Wein zu seiner Großmutter. Die ausgesprochen ekelige Kombination von Alkohol und Kuchen läßt den vorsichtigen Schluss zu, dass es dabei um einen bei Personen weiblichen Geschlechts jenseits der Pensionsgrenze so beliebten Süßwein handelt.
III.
„Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen!“
IV.
Maxim Gorkis „Nachtasyl“ durchweht ein leicht saurer Duft von Restalkohol. Der häufigste Satz lautet „Mein Organismus ist mit Alkohol vergiftet.“ Das hört niemand gern und sehen will man auch keinen Menschen, dessen Organismus mit Alkohol vergiftet ist. Deshalb ist das Stück nicht ganz zu Unrecht ein wahres Drama.
V.
Trinken und darüber schreiben liegt dem Russen sowieso. Die Fähigkeit, volltrunken ganze Sätze zu formulieren, wird in Wenedikt Jerofejews „Reise nach Petuschki“ virtuos vorgeführt. Ein besonders gelungenes Kapitel des Buchs sei hier vollständig zitiert: „Und ich trank unverzüglich“.
VI.
Im westeuropäischen Kulturkreis erscheint die literarische Beschäftigung mit dem Dauersaufen dagegen oft in einer unangenehm depressiven Ausprägung. Malcolm Lowrys „Unter dem Vulkan“, Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“ und Hans Falladas „Der Trinker“ sind eigentlich nur besoffen zu ertragen.
VII.
Das literarische Werk von Walter Kempowski dagegen ist für den Alkoholfreund uninteressant. In „Tadellöser & Wolff“ wird ständig „Kaffee getrunken“ und Selterswasser geschlürft. Der „gute Kognak“ ist „spurlos verschwunden“ (ja, aber wohin?) und erst der Einmarsch der Russen bringt auf den letzten Seiten die Erlösung: Auf dem Balkon wird eine Flasche Sekt geköpft.
Nicht viel besser wird es in „Herzlich willkommen“ und da ist Held Walter immerhin schon Ende Zwanzig. Über mehr als Begrüßungsdrinks in homöopatischen Dosen wird nicht berichtet: Portwein, Martini, Kognac. Immerhin kann unser Held Frau Amtsgerichtsrat Warkentin beim Trinken von Rostocker Doppelkümmel (Respekt!) zusehen. Dann, auf Seite 36, passiert es endlich: Walter kriegt einen „Rum spendiert, den schüttete man ihm in die Cola.“ Anmerkung für den Nichtfachmann: Dieses Mischgetränk ist eng verwandt mit der als „Feiger-Alkoholiker-Mischung“ bekannten Kombination Fanta-Korn, wobei der Korn nicht separat getrunken wird, sondern in die Fanta gehört. Übrigens war diese Mischung das Lieblingsgetränk der St.-Pauli-Legende Fritz Honka. Der - noch einmal übrigens - einige seiner letzten Lebensjahre in Mecklenburg verbringen musste. Was - übrigens - zeigt, wie schwer manche Menschen durch die Wiedervereinigung gestraft wurden.
Zurück zu Held Walter: In Dänemark nimmt er die Kombination Aquavit, Suppe, Aquavit, Rotwein, „Zitronenkrem“, Kaffee (war klar), „kleine süße Kuchen“, „warmen Kognac“ zu sich - und zwar in der Reihenfolge. Er war eingeladen. Jeder Kommentar erübrigt sich. Bei seinen Sexszenen mit „Fräulein Kramer“ gibt es Apfelsaft. Erst später kommt in der Beziehung „grüner Pfefferminzlikör“ (S. 149) zum Einsatz. (Kurze Sprachkritik: Gibt es den auch in „nichtgrün“ oder ist das ein „weißer Schimmel“?) Erst ein alter Knastkamerad aus Bautzen bringt Walter auf den richtigen Weg: Es gibt Bier und Korn in größeren Mengen. Glückwunsch. Der Autor hätte sich allerdings an dieser Stelle den verbalen Ausfall gegen Wodka sparen können. Auch wirkt der Abschlusssatz piefig: „Die Zeche teilten wir uns.“ Als Pädagogikstudent (sic!) in Göttingen wird es nicht besser. Für Kenner Göttingens ist das umso verwunderlicher, da im Ort eigentlich nur Studenten und Kneipen zu finden sind. Um es mit Heinrich Heines Worten auszudrücken: Es gibt sie in Göttingen so zahlreich „wie Kot am Meer“ („Die Harzreise“). Nur einmal füllen nette Kommilitonen („drei Herren von der Waffen-SS“) den Helden ab. Ansonsten gibt es Kaffee (klar) und Speiseeis. Apropos Speiseeis: Eine der schönsten Eiskreationen ist der leider nicht sehr weit verbreitete Polarbecher: Drei Kugeln Zitroneneis schwimmen in Wodka. Eine gelungene dialektische Verbindung von Form und Inhalt. Das Fazit des Buchs liefert Kempowski selbst auf Seite 329:
- „Schon wieder eine Seele
- vom Alkohol gerettet,
- schon wieder eine Seele
- vom Alkohol befreit.“
Liste
BearbeitenAutor | Werk | Getränke |
---|---|---|
Gebrüder Grimm | Rotkäppchen (1812) | Wein |
Jaroslav Hašek | Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken der Gesetze (1912) | Bier: Großpopowitzer, Lager, Pilsner, Schwechater, Smíchover, Vinohrader; Wein: dalamtinischer, griechischer, italienischer, österreichischer, schwerer spanischer, ungarischer; Schnaps: Sliwowitz, Rum; Likör: Kontuschowka |
Heinrich Mann | Der Untertan (1914) | 1/2 Cognac, 1/2 Champagner |
Platon | Symposion (um 380 v. Chr.) | Wein |
Erich Maria Remarque | Der schwarze Obelisk (1956) | Rumverschnitt (Herren), 1/2 Rumverschnitt, 1/2 Portwein (Damen) |
Sven Regener | Herr Lehmann (2001) | Bier: Beck’s, Schultheiß, Maibock, Kristallweizen (ohne Zitrone), Guinness; Sekt; Rotwein; Schnaps; Brandy; Tequila; Fernet; Ouzo; Irischer Whiskey |
Zitate
Bearbeiten„Was ein Wassertrinker verfasst, wird weder lange gefallen noch als Dichtung bestehen bleiben.“
„Je mehr Alkohol im Kopfe ist, desto besser lässt sich Politik machen.“
„Sein Weg führt zur nackten Wahrheit und zum Tod. Er schenkt Erkennen und wirre Träume, er ist der Feind des Lebens und der Lehrer einer Weisheit, die jenseits des menschlichen Vorstellungsbereichs liegt.“
„Gin und Orangensaft sind die besten Arzneien gegen Alkoholismus, dessen wahrer Grund die Häßlichkeit ist und die vollkommen verwirrende Sterilität des Lebens, wie es einem verkauft wird.“
„Ach, Herr Doktor, ich weiß, ich weiß doch sehr gut, dass man, dass man vor allem in meinem Fall, trinkend nicht lange und glücklich leben kann. Aber wie kann man, ohne zu trinken, lange und glücklich leben?“