Homotopie-Verfahren (auch als Homotopiemethode, Fortsetzungs- oder Einbettungsverfahren bezeichnet) sind Berechnungsmethoden in der numerischen Mathematik zur Bestimmung von Lösungen nichtlinearer Gleichungssysteme. Ziel ist es dabei den Konvergenzbereich eines Verfahrens zur Lösung nichtlinearer Gleichungssysteme (wie zum Beispiel des Newtonverfahrens) zu vergrößern.

Vorbetrachtung

Bearbeiten

Eine Lösung eines nichtlinearen Gleichungssystems   ist ein Punkt  , der in der Regel   nichtlinearen Bedingungen   genügt, die zu einer vektorwertigen nichtlinearen Funktion (Abbildung)   zusammengefasst werden. Bei vielen Anwendungen enthält die Funktion   Problemparameter, etwa  , welche verschiedene Werte annehmen können. Ein bekanntes Beispiel ist das reale Pendel, dessen Schwingungsdauer nichtlinear von der reduzierten Pendellänge abhängt. In diesem Fall lautet das Gleichungssystem korrekter  , und auch die Lösung   hängt vom Parameter   ab und bildet daher eine Lösungskurve   mit

  für alle  

Als möglicher Bereich des Parameters   wurde dabei ohne Beschränkung der Allgemeinheit das Intervall   gewählt. Die Existenz einer glatten Kurve folgt unter geeigneten Voraussetzungen aus dem Satz über implizite Funktionen. Homotopie-Verfahren sind numerische Verfahren, die solche implizit definierten Kurven verfolgen.

Homotopie für nichtlineare Gleichungssysteme

Bearbeiten

Eine prinzipielle Schwierigkeit beim Einsatz des Newton-Verfahrens ist die Bestimmung einer Start-Näherung, die nahe genug an der Lösung   liegen muss, um Konvergenz zu erreichen. Dieses Problem kann man durch Einbettung in eine Homotopie und die Verfolgung der Lösungskurve umgehen. Es sei jetzt   das zu lösende nichtlineare Gleichungssystem mit Lösung  . Dann kann man etwa durch

 

mit einem festen   ein Hilfsproblem definieren, dessen Lösung man an der Stelle   kennt:   ergibt offensichtlich  . Andererseits ist die mit   gesuchte Lösung gerade die an der Stelle  :  , also  . Mit den im folgenden Abschnitt beschriebenen Verfahren kann nun die Kurve   von der bekannten Lösung in   zur gesuchten in   verfolgt werden.

Numerische Kurvenverfolgung

Bearbeiten

Das schon erwähnte Newton-Verfahren konvergiert sehr schnell (quadratisch), aber nur lokal bei genügend genauer Startnäherung. Dies wird bei der Kurvenverfolgung ausgenutzt, dass der Parameter   in kleinen Schritten vergrößert wird, etwa von   auf  . Dann ist die alte Lösung   für eine kleine Schrittweite   eine gute Startnäherung für das Problem  :

Trivialer Prädiktor
 ,
Korrektoriteration
 

Dabei ist   eine Kurzschreibweise für die quadratische Jacobi-Matrix der partiellen Ableitungen nach den Variablen  .

Sie bildet die Matrix des linearen Gleichungssystems, das in jedem Newtonschritt für die Korrekturen   zu lösen ist. Eine Skizze dieses Vorgehens zeigt das erste Diagramm.  

Das zweite Diagramm verdeutlicht, dass man eine bessere Startnäherung erhält, wenn man vom Punkt   aus in Richtung der Kurventangente geht. Die Tangente kann mit Hilfe der Kettenregel bestimmt werden. Denn da die Funktion   identisch verschwindet, tut dies auch ihre Ableitung,

 

Im Punkt   kann also die Tangentenrichtung   aus einem linearen Gleichungssystem bestimmt werden. Dieses Verfahren lautet folgendermaßen:

Tangentialer Prädiktor
 
Korrektoriteration
 

Gegenüber dem einfachen Verfahren wurde nur die erste Gleichung ersetzt.

 

Das Diagramm zeigt, dass der Startfehler, den die (grün gezeichneten) Newtonschritte überbrücken müssen, in der Regel wesentlich kleiner als beim trivialen Prädiktor ist, bei einer glatten Kurve in der Größenordnung  . Diese Verbesserung erfordert sogar nur einen unwesentlichen Zusatzaufwand, denn die Matrix   entspricht der aus dem Newtonschritt. Man kann daher die letzte LR-Zerlegung aus dem Newton-Verfahren für   zur Berechnung der Tangente   wiederverwenden.

Bei der praktischen Durchführung versucht man, die Konvergenz des Newton-Verfahrens durch Schrittweitensteuerung sicherzustellen. Dazu wählt man die Schrittweite   so, dass die Kontraktion in den beiden ersten Newton-Schritten genügend klein ist, insbesondere kleiner eins. Wenn sich das gewählte   nachträglich als zu groß herausstellt und das Newton-Verfahren schlecht oder gar nicht konvergiert, wiederholt man den Schritt   mit einem kleineren  .

Verfolgung allgemeiner Kurven

Bearbeiten

Die beschriebenen Verfahren arbeiten nur dann problemlos, wenn die Funktion F genügend oft differenzierbar ist und die Jacobi-Matrix   überall regulär ist. Gilt letzteres nicht mehr, können Umkehrpunkte und Verzweigungspunkte der Kurve auftreten.

Nach Umkehrpunkten verläuft die Kurve „rückwärts“, in Verzweigungspunkten spaltet sie sich auf. In beiden Fällen ist daher eine (eindeutige) Parametrisierung nach der Variable t nicht mehr möglich. Daher betrachtet man t einfach als  -te Komponente der Unbekannten bei   und parametrisiert die Kurve nach ihrer Bogenlänge s. Dann sucht man alle Lösungen

 , wobei  

ist. Dieses Gleichungssystem ist unterbestimmt und hat unendlich viele Lösungen, die unter geeigneten Voraussetzungen eine glatte Lösungskurve   bilden.

Wie zuvor folgt aus der Kettenregel  , dass die Tangentenrichtung   das homogene Gleichungssystem mit der vollen Jacobimatrix   erfüllt, also im Kern dieser Matrix liegt. Damit kann also wieder ein Prädiktor berechnet werden. Auch das Newton-Verfahren ist durchführbar, indem man eine Richtung wählt, die orthogonal zur Kurventangente, also zum Kern von   liegt. Diese Richtung wird automatisch durch die Moore-Penrose-Pseudoinverse von   berechnet. Bei diesem Verfahren wird eine Approximation an die Bogenlänge s schrittweise vergrößert:

Allgemeiner Prädiktor-Korrektor-Schritt
 

Die Bezeichnung   bezeichnet dabei die erwähnte Pseudoinverse.

 

Das dritte Diagramm skizziert dieses Vorgehen, der (grün gezeichnete) Newtonschritt verläuft ungefähr orthogonal zur Kurve und hat daher auch im Umkehrpunkt (vertikaler Verlauf der Kurve) keine Schwierigkeiten.

Bemerkungen:
  • Durch die erste Bedingung ist noch nicht die Richtung der Tangente   festgelegt. Man wählt das Vorzeichen natürlich so, dass das Innenprodukt   ist, um in einer Richtung vorzugehen.
  • Die beiden Teilschritte können mit der QR-Zerlegung der transponierten Matrix   effizient ausgeführt werden. Die Tangentenrichtung erhält man mit einem beliebigen Vektor   durch Normierung von  , wenn der letzte Ausdruck ungleich null ist.
  • Die Newton-Korrektur   berechnet man über  , wobei der Vektor   das quadratische Dreiecksystem   löst.

Literatur

Bearbeiten
  • Werner C. Rheinboldt: Numerical Analysis of Parametrized Nonlinear Equations. John Wiley and Sons, New York 1986, ISBN 0-471-88814-1. (siehe auch das FORTRAN-Modul PITCON als Teil der netlib.org-Bibliothek contin)
  • P. Deuflhard, A. Hohmann: Numerische Mathematik. de Gruyter, 1991, ISBN 3-11-012917-5.
  • E. L. Allgower, K. Georg: Introduction to numerical continuation methods. SIAM Philadelphia, 2003, ISBN 0-89871-544-X.
  • Schwetlick, H. und Kretschmar, H.: Numerische Verfahren für Naturwissenschaftler und Ingenieure. Fachbuchverlag Leipzig, 1991, ISBN 3-343-00580-0, S. 200.
  • M. Hermann: Numerische Mathematik, Band 1: Algebraische Probleme. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Walter de Gruyter Verlag, Berlin und Boston 2020. ISBN 978-3-11-065665-7.