Juden im Elsass

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Der Legende nach kamen Juden mit den römischen Legionen ins Rheintal nach ihrer Vertreibung im Jüdischen Krieg aus Judäa.[1] Nachweisbar sind jüdische Bewohner ab dem 11. Jahrhundert, zuerst in Straßburg, sie wurden als Aschkenasim bezeichnet.[2]

Heiliges Römisches Reich

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Straßburger Münster: die Synagoge symbolisiert das Judentum, genauer gesagt seine geistliche „Blindheit“, da das jüdische Volk aus christlicher Sicht die Göttlichkeit Jesu Christi nicht zu erkennen wusste

Im Fränkischen Reich sind Juden nachgewiesen, so war ein Jude namens Isaac unter der Delegation, die Karl der Große nach Bagdad sandte, Ludwig der Fromme stellte für drei Juden Schutzbriefe aus, Karl der Kahle hatte einen jüdischen Leibarzt.[3]

 
Jude mit Judenhut im Codex Manesse

Eine erste Erwähnung der jüdischen Gemeinde von Straßburg findet man bei Benjamin von Tudela im 12. Jahrhundert.[4] Ein Votivstein, der an eine Schenkung an die Synagoge erinnert und aus derselben Zeit stammt, wurde vor mehr als einem Jahrhundert in der Nähe der Rue des Juifs gefunden.[5] Im hohen Mittelalter waren die Juden angesehen als Zeugen der Passion Christi und als Bewahrer des Alten Gesetzes (des alten Bundes).[6] Diese Rolle der Juden geht zurück auf Augustinus von Hippo.

Die ersten Belege für Juden in Straßburg stammen aus dem Jahr 1146, als sie während des Zweiten Kreuzzugs misshandelt wurden. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist eine Spende von 5 Goldflorin dokumentiert, die für den Bau eines jüdischen Gotteshauses bestimmt war. Im Jahr 1182 wuchs die jüdische Gemeinde an, da König Philip II. die Juden aus Frankreich auswies. Die Gemeinde besaß eine Synagoge, eine Mikwe und einen Friedhof, den sie von der St. Peter Gemeinde gepachtet hatte für 1 Pfund (Livre) pro Jahr. Im Jahr 1325 kaufte sie das Grundstück für 136 Pfund. Ab 1236 wurden die Juden Kammerknechte genannt und standen unter der Protektion von Kaiser Friedrich II. Dafür mussten sie eine jährlich Abgabe von 200 Mark entrichten. Obwohl die Kammerknechte keine Leibeigenen waren, verfügte der Kaiser über sie nach Belieben. Neben den Abgaben an den Kaiser mussten die Juden auch Abgaben an den Bischof von Straßburg bezahlen. Wenig später verlangte auch die Stadt Straßburg Abgaben von ihnen. Da dies die Leistungsfähigkeit der Juden überstieg, stritten sich Bischof und Stadt, wer wie viel von den Juden erhalten sollte. Auch aus diesem Grund kam es zur Schlacht von Hausbergen am 8. März 1262, die mit einer Niederlage des Bischofs endete. Schließlich mussten die Juden 1000 Pfund an die Stadt und 12 Mark an den Bischof bezahlen. Im Jahr 1270 tauchte in Wissembourg zum ersten Mal die Anklage von Ritualmorden auf.[7] Im Jahr 1338 kam es zu einer Revolte armer Menschen unter Führung von Hans Zimberlin, ein ehemaliger Gastwirt, genannt Armleder, in der die Juden angegriffen wurden. 1340 erhielten die Juden einen neuen Schutzbrief des Bischofs. All dies war hinfällig mit dem Ausbruch der Pest im Jahr 1349. Die Juden wurden als Brunnenvergifter denunziert und man verlangte ihre Ausweisung oder Ausrottung. Am 14. Februar 1349 wurden 2000 Juden in einem Autodafé verbrannt. Die Überlebenden wurden für 2 Jahrhunderte aus der Stadt verbannt. Ab 1369 durften sie sich vereinzelt wieder in Straßburg niederlassen.[8]

 
„Jude mit Geldbörse“, St.-Peter- und Paulskirche in Rosheim, mittelalterliches Spottbild

Auch in den kleineren Städten des Elsass verlief die Geschichte der Juden wie in Straßburg, zum Beispiel in Mülhausen. Hier findet man erste Belege für die jüdische Gemeinde im 13. Jahrhundert, die Gemeinde wuchs, konnte eine Synagoge bauen und wurde immer wieder angegriffen und schließlich 1477 vertrieben.[9]

Eine herausragende Figur der Juden im Elsass war Josel von Rosheim (1476–1554), ein Rabbiner, der enormen Einfluss auf die Deutschen Kaiser Maximilian I., Karl V. und Ferdinand I. hatte. Es gelang ihm, die zunehmende Judenfeindlichkeit zumindest abzumildern. Er diskutierte auch mit Martin Luther, ohne ihn von seiner Judenfeindlichkeit abbringen zu können.[10] Neben Luther waren auch die oberrheinischen Humanisten durchweg judenfeindlich: Jakob Winpfeling (1450–1528), Erasmus von Rotterdam (1464?–1536), Sebastian Brant (1457?–1521).[11] Johannes Reuchlin (1455–1522) schätze immerhin die jüdische Literatur, führte hebräische Studien an der Universität ein und rettete jüdische Bücher vor der Vernichtung.[12]

Die Repression der Juden hielt an, solange das Elsass zum Deutschen Reich gehörte. Sie durften nicht in den Städten wohnen, keinen Grund und Boden besitzen, viele Berufen waren ihnen verwehrt, sie mussten spezielle Abgaben bezahlen. Am Ende des 16. Jahrhunderts lebten nur noch 120 jüdische Familien im Elsass.[13]

Im Unterschied zum Deutschen Reich waren die Juden im Elsass nie gezwungen, in einem Ghetto zu leben. In den Judengassen, die man heute noch in vielen Orten findet, lebte eine Gemeinschaft, die sich freiwillig zusammengeschlossen hatte.[14]

Frankreich

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Mit dem Westfälischen Frieden 1648 kam das Elsass zu Frankreich, zuletzt Straßburg 1681. Die Situation der Juden in Frankreich hatte sich verschlimmert, nachdem Karl VI 1394 ihren Aufenthalt untersagt hatte. Als 1481 die Provence zum Königreich Frankreich kam, wurden auch hier die Juden ausgewiesen. Zunächst beließ Ludwig XIV. die Herrschaft und die Regeln im Elsass wie vorher. Erst 1651 beauftragte er den Gouverneur von Breisach, die Juden auszuweisen. Die Adligen des Elsass intervenierten dagegen, hauptsächlich, weil sie von den Juden hohe Abgaben erhielten und weil die Juden eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben als Viehhändler und Geldverleiher einnahmen. Tatsächlich stellte der König 1657 die Juden unter seinen Schutz durch einen Lettre Patente (Gesetzgebungsakt des Souveräns). 1681 wurde Aaron Wormser als Rabbiner des Elsass ernannt. 1689 lebten im Elsass 525 jüdische Familien, das waren ca. 2.600 Personen.[15] 1721 wurde das Elsass aufgeteilt: 3 Rabbiner für das Oberelsass und 4 für das Unterelsass. Diese Aufteilung blieb bis zur Französischen Revolution erhalten.[16] Bis zur Französischen Revolution besserte sich die Situation der Juden, so schaffte Ludwig XVI.1784 den Leibzoll ab und verabschiedete Erlasse, die die Sicherheit der Juden verbesserten.

 
Davidstern aus Jungholtz - 1770 - Polychromes Holz, Eisen - Unter dem Doppeladler das Datum auf Hebräisch

Cerf Beer, ein reicher und einflussreicher Jude, drang beim König auf diese Verbesserungen. Ebenfalls 1784 verfügte Ludwig XVI. eine Volkszählung der Juden im Elsass. Diese Zählung diente dazu, die Steuererfassung besser kontrollieren zu können. Den Historikern lieferte sie wertvolle Daten, auch über die Struktur der jüdischen Gesellschaft. So hat Bischheim mit 473 Juden die größte jüdische Gemeinde im Basse-Alsace (heute Departement Bas-Rhin) und Wintzenheim mit 430 die größte im Haute-Alsace (heute Departement Haut-Rhin). Die Juden durften normalerweise nicht in den Städten wohnen, daher die hohen Zahlen in den umliegenden Gemeinden. In dieser Zählung stellte sich heraus, dass 50 % der jüdischen Familien keinen Familiennamen führten, sie wurden nach dem Namen ihres Vaters oder ihrer Herkunft benannt.[17] 1788 immatrikulierte sich der erste jüdischen Student an der Universität Straßburg.[7]

 
Cerf Beer

Im Elsass lebten ca. 25.000 Juden, von insgesamt 40.000 Juden in ganz Frankreich.[18] Der Zuwachs beruhte hauptsächlich auf Zuwanderung aus dem Osten, besonders der Krieg in Polen vertrieb viele Juden.[15]

Die Französische Revolution wurde von den Juden in Frankreich freudig begrüßt, versprach doch die Losung „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ ihre Gleichberechtigung.

Auch im Elsass litten die Juden unter der Terrorherrschaft ab 1793. Im November wurde der Kult der Vernunft (culte de la raison) als neue Religion ausgerufen. Jede andere Religionsausübung wurde verboten, insbesondere kirchliche Taufen, Heiraten u. a., die Kirchen, Tempel und Synagogen wurden geschlossen, die heiligen Bücher verbrannt, die Oberhäupter der israelischen Gemeinde in Straßburg wurden verhaftet, darunter Cerf Beer. Nach dem Sturz Robespierres im August 1794 besserte sich die Situation wieder.[19]

Das Dekret von 1791 gewährte den Juden die volle Emanzipation. Im Elsass gab es Vorbehalte. Einerseits waren die Vertreter des Elsass in der Nationalversammlung, Broglie und Reubell, gegen die Gleichberechtigung der Juden, mit dem Argument, dies würde zu Unruhen unter der Bevölkerung führen. Andererseits wollten die Juden ihre Selbstverwaltung, besonders in religiösen Fragen, die sie mühsam erstritten hatten, behalten. Dies führte zu Protesten. Als Napoléon 1806 bei seiner Rückreise aus Austerlitz durch Straßburg kam, bemerkte er diese Widerstände und verurteilte sie scharf. Er drang darauf, dass sich die Elsässer einigen. Der jüdische Widerstand wurde durch den Rabbiner David Sinzheim besänftigt. Durch eine gewagte Interpretation der talmudischen Vorschrift „dina de malkhouta“ (das Gesetz des Königreichs ist das Gesetz) konnte er die Gemeinde mit den neuen Regeln zu versöhnen. 1807 und 1808 wurden schließlich von Napoléon die Gesetze zur Gleichstellung beschlossen. Die Juden des Elsass waren empört über das Gesetz gegen den Wucher, das sie besonders betraf, es wurde als „Berüchtigtes Dekret“ (décret infâme) bezeichnet. Ein Ziel dieses Dekrets war, die Juden von ihren angestammten Berufen wie Viehhändler oder Geldverleiher abzubringen und sie zu Handwerkern oder Angestellten (französisch: arts et metiers) auszubilden. Erst unter der Restauration 1818 wurde es aufgehoben.[20][21] Ebenfalls 1807 wurde durch Napoléon das Namensrecht reformiert, traditionelle Namen wie Judt Leibele waren nicht mehr zulässig, ebenso hebräische Namen wie Nephtali, letztere änderten ihren Namen in Hirsch, Cerf oder Zivy.[22] 1830 unter Louis-Philippe wurde ein Gesetz zur Finanzierung der religiösen Kulte beschlossen. Erstmals war der jüdische Glaube mit dem christlichen gleichberechtigt. Der Staat bezahlte Rabbiner und Vorbeter. Dies und der zunehmende Wohlstand der Juden führte dazu, dass im 19. Jahrhundert 176 Synagogen gebaut oder renoviert wurden. Nachdem die Juden sich auch in den großen Städten niederlassen konnten, zogen viele von ihnen vom Land in die Stadt. Dies und die Gewerbefreiheit führte dazu, dass die Juden wohlhabender wurden, die Ausbildung der Kinder besser: die Juden stiegen aus prekären Verhältnissen in das Bürgertum auf, z. B Albert Kahn oder die Komponistenfamilie Waldteufel, eigentlich Lévy, aus Straßburg, mit Émile Waldteufel als bekanntestem Mitglied. Auch in der Architektur der Synagogen machte sich dies bemerkbar. Die frühere Schlichtheit wurde durch aufwändige Bauten ersetzt, in Anlehnung an die Pracht der katholischen Kirchen.[23][24]

In der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste man die Berufe der Juden einer kleinen Stadt und in einem Dorf. In Wissembourg gab es 1836 die folgenden Berufe, in Klammern die Anzahl: Händler (54), Großhändler (5), Eigentümer (4), Gebrauchtwarenhändler (4), Hausierer (3), Metzger (6), Rabbiner (1), Küster (franz: bedeau) (1), Lehrer (1). In Kolbsheim gab es 1851 Viehhändler (Rinder) (11), Kälberhändler (5), Getreidehändler (1), Hausierer (5), Altkleiderhändler (1), Bettler (1), Mittelloser Musiker (franz: musicien indigent) (1), Metzger (9), Schneider (1), Hausangestellter (1).[25]

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in Westeuropa, besonders in Deutschland und Frankreich, zur Emanzipation der Juden, weil die aufklärerische Reformbewegung innerhalb des Judentums auf liberale Kräfte in den Regierungen traf, die diese Bewegung unterstützen. Ein bemerkenswertes Zeugnis der religiösen Toleranz dieser Zeit ist der Roman L’ami Fritz von Erckmann-Chatrian, in dem der Held Fritz Anabaptist ist, sein Freund David Rabbiner und Joseph Zigeuner (bohémien).[26] In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand allerdings eine neue Bedrohung der Juden: sie wurden als Rasse angesehen, vorher hat niemand eine Religionsgemeinschaft als Rasse betrachtet. Diese Änderung sollte sich später im Holocaust als fatal erweisen.[27]

 
Synagoge Fénétrange aus dem 18. Jahrhundert
 
Synagoge Soultz-sous-Forêts von 1897

Die Juden bezeichneten sich jetzt selbst oft als Israeliten, da der Begriff Jude antisemitisch besetzt war. Während der Februarrevolution 1848 kam es erneut zu antijüdischen Übergriffen auf dem Land.[28]

Reichsland Elsaß-Lothringen

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1870 dienten viele Juden in den französischen Armeen, ein Ergebnis der Gleichberechtigung. Beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges sandte das Pariser Rabbinat Vertreter (Almoseniere) zu den Armeen, um ihre Glaubensgenossen geistlich zu betreuen.[29]

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 annektierte das Deutsche Reich Elsass und Lothringen und machte es zum Reichsland Elsaß-Lothringen, welches direkt von der deutschen Regierung in Berlin regiert wurde. Theoretisch waren die Juden im Deutschen Reich seit 1871 gleichberechtigt, praktisch blieben ihnen viele Positionen versperrt: die Offizierslaufbahn oder höhere Beamtenstellen. Dies und ihr französischer Patriotismus führte zur Abwanderung vieler Juden, entweder in die Départements in der Nähe: Territoire de Belfort, Vosges, Meurthe-et-Moselle, oder nach Paris. Ungefähr 12.000 der 40.000 Juden verließen Elsass-Lothringen bis 1914.[30] Die Dreyfus-Affäre (ab 1894) verletzte viele Juden durch ihren antisemitischen Charakter. Viele sahen in Deutschland ein Land der Toleranz und freundeten sich mit der Annexion an.[31]

Zunächst beließen die deutschen Behörden im Elsass die bestehenden Gesetze in Kraft, insbesondere auch die Napoléonischen über die Gleichberechtigung der Juden. 1882 gründete das Kaiserliche Ministerium für Elsaß-Lothringen den Religionsverein Etz 'Hayim und 1888 die Israelische Religionsgemeinschaft Straßburg, um die Juden zu organisieren. Die Regierung investierte auch in jüdische Schulen. Da immer mehr Juden in die großen Städte zogen, mussten viele dieser „Zwergschulen“ später wieder schließen. Durch die deutsche Annexion traten im Elsass die französischen Gesetze zur Laizität von 1882 und 1888 nicht in Kraft, die Schulen blieben religiös orientiert. Bis heute gibt es im Elsass nicht die strenge Trennung von Staat und Kirche wie in Frankreich. Ab 1885 wurden Raiffeisenkassen im Elsass gegründet. Einerseits verloren dadurch viele jüdische Geldverleiher ihre Arbeit, andererseits hörte der Zorn auf den „Wucher“ der jüdischen Geldhändler auf. Aus dem Deutschen Reich wanderten Juden ein, von denen manche wirtschaftlich erfolgreich waren. Zwei bekannte Beispiele sind die Unternehmen von Adler & Oppenheimer und Wolf Netter & Jacobi. In der paternalistischen Tradition sorgten sie gut für ihre Arbeiter und waren hoch angesehen. Jüdische Bürger beteiligten sich auch vermehrt am politischen Leben. En Beispiel ist Daniel Blumenthal, 1860 in Thann geboren. Er wurde Rechtsanwalt in Mülhausen und gründete die Elsaß-Lothringische Volkspartei. Er forderte das Ende der direkten Regierung des Elsass durch Berlin. 1899 wurde er in den Stadtrat von Colmar gewählt, 1903 in den Landesschuss, einen Vorläufer des Landtags und schließlich in den Reichstag nach Berlin delegiert. Die Reichslande hatten zu dieser Zeit noch keine eigenen, direkt gewählten Abgeordneten im Reichstag. 1911 erließ Wilhelm II. das Gesetz über die Verfassung Elsaß-Lothringen. Damit wurde das Reichsland ein Land des Deutschen Reiches, mit Landtag und lokaler Regierung. In der Ersten Kammer, einer Art Senat, waren die großen Religionen mit Vertretern repräsentiert, darunter auch der Großrabbiner Adolphe Ury.[32]

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gab es Vertreter der jüdischen Gemeinden im Elsass, die Frankreich unterstützten. Im Lauf des Krieges wurde der Druck der deutschen Behörden größer, sodass viele von ihnen das Elsass verließen. Z. B. emigrierten der Großrabbiner des Haut-Rhin, Isodore Weil und der Industrielle Armand Bernheim, Mitglied des Konsistoriums, in die Schweiz. David Bloch aus Guebwiller, der sich bei Kriegsausbruch in Frankreich befand, meldete sich freiwillig für Erkundigungen im Elsass. Er wurde von den Deutschen entdeckt, verhaftet und füsiliert. Nach dem Krieg wurde er einer der Helden des Vaterlandes, in Guebwiller wurde ihm ein Ehrenmal errichtet.[33]

Im Ersten Weltkrieg wurden ca. 4.000 Juden aus dem Reichsland in die Deutschen Armee eingezogen, sie wurden meist an der russischen Front eingesetzt. Die Heeresführung misstraute ihnen wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu Frankreich. 299 der eingezogenen Soldaten fielen im Krieg.[34]

Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg

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Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde Elsass-Lothringen 1918 wieder französisch. Viele aus Deutschland eingewanderte Bewohner, sogenannte Altdeutsche, wurden ausgewiesen. Ein besonders tragisches Schicksal traf Harry Bresslau, einen Berliner Juden, der 1890 einen Lehrstuhl für Geschichte an der Kaiser-Wilhelms-Universität bekommen hatte. Er hatte seit 28 Jahren im Elsass gelebt, und zwei seiner Kinder waren mit Elsässern verheiratet, darunter Helene mit Albert Schweitzer. Trotzdem musste er am 1. November 1918 mit einer Frist von 24 Stunden das Elsass verlassen. Auch die Eigentümer der Firmen Adler & Oppenheimer und Wolf Netter & Jacobi wurden ausgewiesen. Es gab Proteste dagegen, dennoch mussten die Gründerfamilien Adler und Oppenheimer 1919 das Elsass verlassen. Ludwig Netter und Eugen Jacobi wurden zwar enteignet, durften schließlich aber im Elsass bleiben und wurden in ihrer ehemaligen Fabrik angestellt.[35] Besonders betroffen durch diese Ausweisungen waren auch mittellose Juden, die aus Osteuropa eingewandert waren, um an den elsässischen, deutschsprachigen Universitäten zu studieren.[36]

Ein weiteres Problem war die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich. Ab 1924 versuchte die Regierung, diese Trennung auch im Elsass durchzusetzen. Der Widerstand war so stark, dass sie darauf verzichtete. In dieser Diskussion schlugen sich viele jüdische Intellektuelle im Namen des Fortschritts auf die Seite der Regierung. Bei ihren katholischen Nachbarn fanden sie dafür kein Verständnis. Besonders der gebürtige Straßburger Jude Georges Weill, sozialistischer Politiker und Berater der Regierung in Paris, tat sich hervor. Dies schürte den latenten Antisemitismus im Elsass.[37]

In den 1930er Jahren nahm der Antisemitismus, wie in vielen Ländern Europas, zu. Besonders die Landespartei und der Bauernbund hetzten gegen die Juden. Sprüche wie „Christen kauft bei Christen“ (auf Deutsch) und „A bas les Juifs“ (Nieder mit den Juden) waren offensichtlich von der NSDAP inspiriert.[38] Der Bauernbund wurde von Joseph Bilger geleitet und gab die deutschsprachige Zeitung Das Volk heraus, die auch Artikel des Stürmers nachdruckte.[39] Auch die Regierung des Front populaire trug ab 1936 zum Antisemitismus bei. Das Elsass, als eher konservatives Land, misstraute der Koalition von Sozialisten und Kommunisten; als dann noch Léon Blum Ministerpräsident wurde, glaubten viele, dass jetzt die Juden die Macht übernähmen.[40] Es gab aber auch Proteste gegen den zunehmenden Antisemitismus. 1939 schrieben 128 Professoren der Universität Straßburg einen Brief an den französischen Präsidenten Albert Lebrun, in dem sie ihn aufforderten „die Tradition der Freiheit und der Toleranz in politischer, religiöser und ethnischer Sicht zu verteidigen“.[41] Der zunehmende Druck auf die Juden in Deutschland und Osteuropa führte zu vermehrter Einwanderung nach Frankreich, insbesondere ins Elsass und nach Lothringen. Die Zuwanderer waren nicht sehr willkommen, da sie den Kampf um Arbeitsplätze in der Wirtschaftskrise verschärften. Gleichzeitig nahm die Unterstützung für den Zionismus zu. Viele der Zuwanderer wollten nach Palästina auswandern. Im Elsass wurden sie durch sogenannte fermes-écoles (Bauernhof-Schulen), in denen sie Landwirtschaft, Handwerke, Hebräisch und jüdische Geschichte lernten, unterstützt.[42]

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 lebten 17.783 Juden im Elsass, von denen zwei Drittel nach Innerfrankreich evakuiert wurden.[43] Die erneute Annexion des Elsass durch Deutschland 1940 leitete ein besonders tragisches Kapitel der Juden im Elsass ein. Auch im „Freien Frankreich“, dem nicht von Deutschland besetzten Teil, herrschte mit dem Vichy-Regime ein willfähriger Helfer Nazi-Deutschlands. Einer der Flüchtlinge war Claude Vigée, Professor für Literatur und Dichter, „Jude und Elsässer“, der den Holocaust überlebte. Im Elsass wurde 1941 das KZ Natzweiler-Struthof eröffnet, 22.000 Menschen wurden bis 1944 dort ermordet. Juden aus dem Elsass wurden meist in Auschwitz ermordet, in Natzweiler-Struthof vor allem Juden aus Osteuropa.[44] Nichtjüdische Elsässer wurden in die Wehrmacht zwangsrekrutiert.

In der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1940 wurde von Angehörigen der Hitlerjugend aus Baden und völkischen Elsässern die große Synagoge in Straßburg niedergebrannt.[45] Dies war der Beginn einer Welle von Synagogenzerstörungen. Das Ziel des Gauleiters des Elsass, Robert Wagner, war es, das Elsass „judenrein“ zu machen.[46] Er wies viele Juden nach Frankreich aus; man schätzt, dass ca. 20.000 Juden das Elsass verlassen mussten.[47] Ab 1942 wurden die Juden in Frankreich verhaftet und in Konzentrationslager gebracht, wo sie ermordet wurden. Insgesamt wurden von den 300.000 französischen Juden 76.000 ermordet.[48]

Elsässische Juden in der Résistance

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Die französische Résistance bekämpfte die deutschen Besatzer von der Kapitulation 1940 bis zur Befreiung 1944. Die regulären französischen Truppen des Vichy-Regimes arbeiteten mit den Deutschen zusammen.

Mit dem Beginn des Kriegs wurde die Bevölkerung des Elsass nach Westen evakuiert, häufig in das Département Dordogne des Périgord und dessen Umgebung. In Städten wie Périgueux und Limoges bildeten sich jüdische Gemeinden, die die religiöse Betreuung, den Schulunterricht und die Unterstützung der Armen organisierten. Viele Juden schossen sich der Résistance an, darunter auch Frauen, die die Kämpfer unterstützten. Die Verfolgung der Juden durch die Deutschen war mittlerweile allgemein bekannt. Wenn ihre Tätigkeit in der Résistance bekannt wurde, wurden sie verhaftet und hingerichtet oder in Konzentrationslagern ermordet. Die Rabbiner übernahmen auch die Rolle als Militärseelsorger (französisch: aumônier), viele von ihnen wurden ebenfalls in Konzentrationslagern ermordet. Der Widerstand gegen die Besatzer wurde militärisch im Untergrund organisiert, aber auch durch Netzwerke, die Juden und anderen Verfolgten zur Flucht verhalfen. Manche mussten mit dem Vichy-Regime zusammenarbeiten, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Die folgenden Organisationen kämpften gegen die Besatzer und schützten die Juden. In ihnen waren nachweisbar 96 Juden aus dem Elsass und Lothringen aktiv:

  • Armé Juive - Organisation Juive de Combat (Jüdische Arme - Jüdische Kampforganisation), nach der Kapitulation gegründet
  • Mouvement de Jeunesse Sioniste (Bewegung der zionistischen Jugend), 1942 gegründet als Zusammenschluss verschiedener jüdischer Jugendorganisationen
  • Œuvre de Secours aux Enfants (Kinderhilfswerk), 1912 gegründet, ab 1942 wurde die Rettung der Kinder vor der Deportation deren Hauptzweck
  • Eclaireurs Israélites de France (Israelitische Pfadfinder Frankreichs) – junge Juden wurden im „Freien Frankreich“ versteckt, die Mitglieder wurden ab 1942 verfolgt und gingen in den Untergrund

Auswahl von Rabbinern, die den Widerstand unterstützen, in Klammern der Geburts- und Sterbeort; falls kein Sterbeort angegeben ist, hat die Person den Krieg überlebt:

  • Elie Bloch (Dambach-la-Ville, Auschwitz)
  • Robert Brunschwig (Altkirch, Auschwitz)
  • Simon Fuks (Wintzenheim),
  • René Hirschler (Marseille, Großrabbiner von Straßburg, Auschwitz)
  • Léon Nisand-Neugewurtz (Straßburg)
  • Henri Schilli (Obernai),
  • Aron Wolf (Straßburg, 1944 füsiliert)[49]

Nach dem Zweiten Weltkrieg

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Nach Kriegsende wurde das Elsass wieder französisch. Wie überall in Europa haben nur wenige Juden den Holocaust überlebt. In den letzten Wochen des Kriegs wurde die letzte Offensive des Deutschen Reichs, das Unternehmen Nordwind zurückgeschlagen, unter heftigen Zerstörungen im Nord-Elsass. Nach dem Krieg sind ungefähr 15.000 Juden, die im Frankreich überlebt haben, ins Elsass und nach Lothringen zurückgewandert.[50] Die Überlebenden wurden oft mit falschem Willkommen begrüßt: Ihre Nachbarn hatten ihr Eigentum beschlagnahmt oder es zu einem niedrigen Preis erworben, da sie nicht glaubten, dass die Juden zurückkehren würden. Sie warfen den Juden vor, von ihren Leiden zu profitieren.[51] 1948 gründete der Rabbiner Abraham Deutsch in Straßburg eine jüdische Schule, die 1954 in ein neues Gebäude, welches die Stadt zur Verfügung stellte, umzog.[52] 1955 wurde für André Neher, französisch-jüdischer Philosoph, ein Lehrstuhl für jüdische Studien an der Universität Straßburg eingerichtet. Von 1954 bis 1958 wurde die Friedenssynagoge in Straßburg im Parc du Contades gebaut, eine der größten in Europa.[53] In den 1950er und 1960er Jahren kamen Juden aus dem Maghreb ins Elsass, die durch die Entkolonisierung vertrieben wurden. Einerseits stärken sie die jüdischen Gemeinden, andererseits hatten sie Schwierigkeiten, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Es entstanden Viertel in der Peripherie der großen Städte, in denen hauptsächlich nordafrikanische Juden lebten.[54] In Straßburg versuchten die Vertreter der drei großen Religionen Christentum, Islam und Judentum das Zusammenleben harmonisch zu gestalten. Dazu diente unter anderem die Fraternité d'Abraham (Bruderschaft von Abraham).[55] Ein Beispiel für die erfolgreiche Integration der eingewanderten Juden war Joseph Klifa, 1931 in Muaskar in Algerien geboren, der ab 1954 in Mülhausen lebte, sich gewerkschaftlich engagierte, 1973 in den Gemeinderat gewählt wurde und schließlich von 1981 bis 1989 Bürgermeister wurde. Bekannt war er als „Couscous Seppi“.[56]

Jüdisches Leben heute

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Die jüdische Gemeinde ist seit 1844 in Konsistorien organisiert, je eines pro Departement. Jedes Konsistorium besteht aus sieben Mitgliedern: dem Großrabbiner und sechs gewählten Laien. Sie vertreten die Gemeinde in religiösen, sozialen und politischen Fragen.[7] Im 21. Jahrhundert lebt die jüdische Bevölkerung meist in den großen Städten Straßburg, Colmar, und Mülhausen. Straßburg hat die zahlenmäßig viert- oder fünftgrößte jüdische Gemeinde Frankreichs, nach Paris und Marseille. Die kulturelle Infrastruktur in Straßburg ist hervorragend: Vom Kindergarten bis zur Universität ist alles vorhanden und zieht auch ausländische Juden an. Der lokale Sende Radio Judaïca Strasbourg sendet seit 1981 Nachrtichten aus dem jüdischen Leben in Straßburg, dem Elsass und der Welt.[57] Während in Frankreich eine Tendenz zur Auswanderung nach Israel besteht, findet man kaum Auswanderer im Elsass. Man schätzt, dass 5.000 jüdische Familien in Straßburg leben. Im Departement Bas-Rhin gibt es 9 Rabbiner. Drei Strömungen des Judentums sind vertreten: die traditionelle mit dem Konsistorium verbundene, die der offizielle Sprecher ist und ungefähr 2.400 Familien umfasst, die liberale Strömung, die ca. 70 Familien umfasst und die konservative Lubanowitscher (Chabad) Gemeinde mit ca. 40 Familien. Alle 3 legen großen Wert darauf, miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten und sich gegenseitig zu respektieren.[58] Ein Aspekt der Zusammenarbeit ist die gegenseitige Anerkennung des Kashrut, das Koscher Siegel für Speisen. Der Großrabbiner von Straßburg ist verantwortlich für die Erteilung, insbesondere für Fleisch, Brot (Matzen) und Wein. In anderen Gemeinden Frankreichs ist dies nicht immer der Fall.[59]

Der ehemalige Großrabbiner von Straßburg René Gutman beschrieb die Wandlungen, die während seiner Amtszeit von 1987 bis 2015 in der Gemeinde stattfanden. Der Besuch der Synagoge am Samstag ging zurück, die Menschen wollten nicht nur Liturgie und Gebete, sondern sie suchten Zugang zu den heiligen Texten. Die offizielle Gemeinden kamen diesen Änderungen entgegen, in dem sie kleinere Versammlungsräume einrichteten und die Rabbiner sich weniger als Priester und mehr als Meister (maître spirituel) und Ratgeber verstehen. Die Gläubigen sehen ihr Judentum nicht mehr als Zufluchtsort vor einer feindseligen Umgebung, sondern als Aufforderung, den Talmud modern zu interpretieren.[58]

 
René Gutman und François Hollande in Sarre-Union (2015)

Die liberale Gemeinde will das Judentum modernisieren: gemischte Ehen, Gleichberechtigung der Frau und homosexuelle Rabbiner. Der Gottesdienst wird teilweise auf Französisch gehalten, um das Verstänis zu fördern, daneben werden aber weiterhin die hebräischen Gebete gepflegt. Die Straßburger Gemeinde wurde 1994 als erste liberale Gemeinde in Frankreich gegründet. Ihr Gotteshaus ist ein ehemaliges Kloster, welches ihr vom protestantischen St. Thomas Stift zur Verfügung gestellt wird. Da die Gemeinde so klein ist, lebt ihr Rabbiner in Paris, wo er weitere Gemeinden betreut.[60]

Die Lubanowitscher Gemeinde besteht seit 1975 in Straßburg. Sie hat eine eigene Synagoge, Kindergärten und jüdische Schulen bis zum Abitur. Ihre Feiern zu den großen jüdischen Festtagen sind sehr beliebt und werden auch von anderen Gläubigen besucht. Ihr Wahlspruch ist „Von der Reflektion zur Aktion“.[61][62]

Die Société d’Histoire des Israélites d’Alsace et de Lorraine (Historische Gesellschaft der Israeliten von Elsass und Lothringen) hält die Erinnerung an die lange jüdische Tradition im Elsass und in Lothringen wach.[63] Der in Straßburg geborene Historiker Georges Weill (1934–2022) forschte und dokumentierte die jüdische Geschichte im Elsass und in Frankreich, er war Ehrenpräsident der Société des études juives (Gesellschaft für Jüdische Studien) von 1880.[64]

 
Strasbourg 36e colloque de la Société d'Histoire des Israélites Alsace Lorraine 9 février 2014

Juden in Bouxwiller, Ingwiller und Marmoutier

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Abseits der großen Städte gab es jüdische Gemeinden in den kleinen Städten des Elsass. Bouxwiller, Ingwiller und Marmoutier als Beispiele hatten lebendige jüdische Gemeinden und es existieren bis heute zahlreiche Zeugnisse jüdischen Lebens. Die 3 Städte liegen im Nordwesten des Elsass, in der Nähe von Saverne, am Rand der Vogesen. Juden siedelten sich nicht in den Dörfern an, weil sie kein Land besitzen durften und darum nicht Bauern werden konnte, in den Städten war ihnen der Zugang zu den Handwerken durch die Zünfte versperrt, sie verdienten ihren Lebensunterhalt meist als Händler, insbesondere Viehhändler und Geldverleiher.

Erste Nachweise für Juden in den 3 Städten gab es im 14. Jahrhundert, Bouxwiller ab 1300, Ingwiller vor 1349 und Marmoutier 1338.[65][66][67] Die erste Ansiedlung der Juden ist nicht dokumentiert, erst die Verfolgungen geben Hinweise mit Jahreszahlen. Der Wechsel aus Tolerierung und Verfolgung war derselbe wie im restlichen Elsass. Die Juden in Bouxwiller und Ingwiller hatten das Glück, in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg zu leben, deren Fürsten tolerant waren im Sinne der Aufklärung.[65]

1725 lebten in Bouxwiller 31 jüdische Familien und 5 Witwen. Weitere Bevölkerungszahlen der jüdischen Gemeinde von Bouxwiller waren 1784 - 297, 1807 - 275, 1851 - 353, 1866 - 296, 1956 - 109.[65]

Der Graf von Hanau-Lichtenstein bot Juden, die nach den Pogromen während der Großen Pest 1349 in den Städten verfolgt worden waren, Zuflucht in Ingwiller. Nach der Reformation durften die Juden auch in Ingwiller Häuser kaufen und bestimmte Berufe ausüben. Das „Schirmgeld“, das sie bezahlen mussten, war kaum höher als die Abgaben der Christen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg warb der Graf Friedrich Casimir auch um Juden, um Ingwiller wieder zu bevölkern. Im 18. Jahrhundert wuchs die jüdische Bevölkerung von 13 auf 38 Familien. 1770 wurde eine jüdische Schule gegründet, die Synagoge wurde 1776 erbaut. 1791, während der Französischen Revolution, waren von einer Gesamtbevölkerung von 1331 210 Juden. 1809 begann man mit dem Bau einer neuen, größeren Synagoge und legte einen Friedhof an, vorher wurden die Toden in Ettendorf beerdigt. Im 19. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung zunächst auf mehr als 500 an, um dann wieder abzunehmen, viele Juden und andere Einwohner wanderten in die USA aus. Im 2. Weltkrieg kam es zu Pogromen: am 24. Juli und am 8. August 1944 wurden 26 Juden ermordet von der Gestapo und den Vichy Milizen. 1987 lebten noch 28 Juden in Ingwiller.[66]

Die Geschichte Marmoutiers wird von seinem Kloster bestimmt. Man nimmt an, dass sich die ersten Juden im 10. Jahrhundert niederließen, als Händler, die christliche Kirche verdammte Händler. Erste Nachweise stammen vom 4. Dezember 1338, als die Stadt Straßburg einen Vertrag mit 15 Juden in Marmoutier abschloss, der ihnen Schutz gegen Bezahlung zusicherte. 1497 wurden die Juden der Stadt verwiesen, im Jahr 1525 wurden auch Juden in den Bauernkriegen geplündert. 1650 lebten 30 Juden im jetzt französischen Marmoutier. Die Bevölkerung wuchs auf ca. 100 im Jahr 1700, 299 in der Volkszählung 1784 und ca. 500 in der Mitte des 19. Jahrhunderts.[67] Am 28. und 29. Februar 1848 stürmte eine Meute von Bauern die jüdischen Häuser und plünderten sie. Mehrere jüdische Familien verließen Marmoutier und suchten in Straßburg Schutz, darunter auch Alphonse Lévy. Anfang des 19. Jahrhunderts erstellte man einen Überblick über die jüdische Bevölkerung: von den 70 Familien mit 350 Personen waren 9 Familien reich, 27 wohlhabend und 34 arm. Nach 1945 kamen ca. 40 Juden zurück, zwanzig Jahre später war die jüdische Gemeinde erloschen.[67]

Jüdische Kultur

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1767 wurde in Bouxwiller eine Jeschiwa, eine Thora-Schule, durch den reichen und gläubigen Mäzen Seligmann Puttlingen gegründet. Er setzte unter anderen den berühmten Hofjuden Cerf Beer als Verwalter ein. Berühmt war auch das jüdische Gericht Beth Din, das bis zur Französischen Revolution Recht sprach für Juden im Nordelsass bis nach Pirmasens.[65]

1836 wurde die jüdische Schule in Ingwiller anerkannt, sie hatte ca. 30 Schüler. Bekannte Schüler waren der General Camille Baruch Lévi, der Professor der Medezin Henri Metzger und der Großrabbiner Höhnel Meiss.[66] 1867 wurde Simon Lévy (1838–1898) Rabbiner von Ingwiller. 1808 wurde Marmoutier eines der 18 Rabbinate des Departments Bas-Rhin. 1822 wurde die Judenschule, die bereits seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bestand, staatlich anerkannt. 1822 wurde auch die neue Synagoge, die einen Vorläufer aus dem 18. Jahrhundert ablöste, eingeweiht. Bis 1798 wurden die Juden auf dem Friedhof von Saverne beerdigt, danach erhielt Marmoutier einen eigenen jüdischen Friedhof.[67]

Zeugnisse

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Die Juden von Bouxwiller und Umgebung wurden im Friedhof von Ettendorf beerdigt, mit Erlaubnis von Kaiser Maximilian II. ab ca. 1575, heute (2020) ist er 3,5 ha groß.[65] Der Graf Friedrich Casimir erlaubte ihnen 1665 einen Friedhof in Neuwiller-lès-Saverne anzulegen, heute der „Alte Friedhof“. 1848 wurde die Synagoge in der Rue des Juifs eingeweiht. Von ihr ist heute nur noch ein kleines Oratorium übrig, die Thorarollen und alle anderen Kultgegenstände wurden zerstört. Seit 2000 ist hier das jüdische Museum untergebracht.[65]

 
Synagoge Bouxwiller

Die Synagoge von Ingwiller von 1822 steht mitten in der Altstadt, gut erhalten, wird aber mangels Gemeinde nicht mehr für Gottesdienste, aber noch für Hochzeiten und Konzerte genutzt.[66]

 
Synagoge Ingwiller

Der jüdische Friedhof liegt neben dem allgemeinen Friedhof, durch eine Mauer getrennt.[68]

Der jüdischen Friedhof von Marmoutier umfasst heute (2022) ca. 600 Gräber. Im Museum von Marmoutier gibt es eine umfangreiche jüdische Abteilung, mit einem jüdischen Bad, einer Mikwe. Die Geburtshäuser von Albert Kahn und Alphonse Lévy können in einem Rundgang durch die jüdische Geschichte besichtigt werden.[67]

Die Sprache Jeddisch (Yeddishdaitsch)

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Jeddisch (Yeddishdaitsch) wurde die traditionelle Sprache der Juden im Elsass genannt. Yeddishdaitsch ist der jüdisch-elsässische (westjiddische) Dialekt oder das „auf jüdische Weise gesprochene Elsässisch“ (yeddish „jüdisch“ und daïtsch „deutsch“). Jeddisch entstand laut Max Weinreich im 10. Jahrhundert in den Rheinlanden, ein erster schriftlicher Nachweis von 1272 stammt aus Worms. Ab dem 16. Jahrhundert findet man es häufiger in Stücken des sogenannten Purimspiels (Fastnachtsspiel).[69] Jeddisch verlor sich im 19. Jahrhundert, in Saverne wurden noch im 19. Jahrhundert Viehtransaktionen auf Jeddisch beurkundet.[69] 1954 hat Paul Lévy aus Mülhausen eine Untersuchung über das Jeddisch veröffentlicht, in der er die Entstehung und das Aussterben der Sprache untersuchte. Er identifizierte 3 Quellen der Sprache: unterschiedliche deutsche Dialekte (60–70 %), Hebräisch (20 %) und für den Rest romanische Sprachen, hauptsächlich Französisch und etwas Welsch.[70] 2022 hat Alain Kahn nach längeren Forschungen ein Buch über das Jeddisch veröffentlicht, welches viele typische Ausdrücke und Redewendungen enthält. Dieser Abschnitt basiert darauf und einem Artikel von ihm in „Judaïsme de l'Alsace et de la Lorraine“.[69][71] Anfangs dienten die hebräischen Wörter dazu, eine geheime Unterhaltung unter Juden zu ermöglichen, später gingen einige davon in den allgemeinen Sprachgebrauch ein wie bayess (Haus bzw. Kneipe), vom hebräischen bayith, oder beheïme für eine wenig intelligente Person, von beheïma (Vieh). Wörter wie schlammasel sind eine Mischung aus schlimm (deutsch) und mazel (Glück), oder ChateïsimsinnaachLeït, vom hebräischen chato (Sünder) und deutsch sind auch Leute, in der Bedeutung für unehrliche Menschen. Da die Juden häufig als Viehhändler tätig waren, gab viele Begriffe dieses Metiers. War der Peïmesshaendler (Viehhändler) bekofedig (respektiert, von hebr. kawod „Ehre“), so konnte er einen Pschoremache (Kompromiss finden, von hebr. pschara „Kompromiss“).

Im 17. Jahrhundert erschien auf Jeddisch das Buch TsénneRénne, vom hebräischen tseéna ouréana (kommt und seht), benannt nach einem Vers aus dem Hohelied, welches in 26 Auflagen im gesamten Rheintal gelesen wurde. Es enthielt für jede Woche einen Kommentar zur Thora. Der berühmte Rabbiner Max Guggenheim (1877–1967) von Saverne begann seine Predigt zum Vorabend des Jom Kippur oft mit den Worten „Ich hab a bref bekomme vom Elieu nove, was schribt er? Er wart of dschüffe.“ (Ich habe eine Botschaft vom Prophet (navi) Elias (Elieu), der uns zur Reue (techouvah) auffordert.). Der Ausdruck „D’r Chochemvon Uttené“ (der Weise aus Uttenheim), der den Rabbi Moïse Bloch (1790–1868), der im Ruf großer Gelehrsamkeit stand, bezeichnete, wurde im Laufe der Zeit zur Bezeichnung eines Menschen, der sich für klüger hielt, als er war. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die Juden aus den Dörfern in die Städte zogen, wurde Jeddisch für die arrivierten Juden zur Sprache der Ungebildeten.[69][72]

Friedhöfe, Synagogen und Museen

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Jüdischer Friedhof in Neuwiller-lès-Saverne

Während der mehr als 800-jährigen Geschichte der Juden sind viele Friedhöfe angelegt worden und da jüdische Friedhöfe für „alle Ewigkeit“ bewahrt werden sollen, die Gräber werden nicht wiederverwendet, sind viele erhalten. Auch im Holocaust unter der deutschen Besatzung (1940–1944) wurden nur wenige Friedhöfe zerstört. Jüdische Friedhöhe gehören der jüdischen Gemeinde und nicht der Ortsgemeinde wie christliche Friedhöfe. Wenn die jüdische Gemeinde ausstirbt, geht der Friedhof in den Besitz des Konsistoriums über, welches nur über beschränkte Mittel zum Erhalt der Friedhöfe verfügt, daher ihr oft schlechter Zustand.[73]

Seit den 2000er Jahren kommt es verstärkt zu Schändungen. Einerseits durch Rechtsradikale, die traditionell antisemitisch sind und meist Hakenkreuze hinterlassen, andererseits aber auch durch radikale Islamisten, die den Israelisch-Palästinensischen Konflikt zum Vorwand nehmen und Israel beschimpfen.[74] Nachdem 2019 mehrere Judenfriedhöfe in Quatzenheim, Westhoffen und anderswo geschändet worden waren, bildete sich eine Bürgervereinigung, die „veilleurs de mémoire“ (Erinnerungsbeobachter) zum Schutz und zur Pflege der Friedhöfe. Sie werden unterstützt von den beiden elsässischen Departements, von den beiden Israelischen Konsortien des Elsass und von Persönlichkeiten wie dem Soziologen Freddy Raphaël, dem Chronist des jüdischen Lebens. Neben dem Schutz der Friedhöfe wollen sie auch das Verständnis für die Juden und ihr Leben verbessern.[75][76]

Nach der Besetzung des Elsass durch deutsche Truppen 1940 wurden viele Synagogen zerstört. Erhalten blieben Gebäude, die zu diesem Zeitpunkt anderen Zwecken dienten, z. B. die Synagoge in Neuwiller-lès-Saverne. Nach der Verwüstung der Synagoge von Schirmeck rettete ein Nachbar die Thorarollen und übergab sie später dem Rabbi Isaac Rouche, der sie über Marokko und die Schweiz nach Israel mitnahm. Nach seinem Tod wurde eine der Thorarollen 2022 der Gemeinde Schirmeck zurückgegeben.[77] Nach dem Krieg wurden viele der zerstörten Synagogen wieder aufgebaut, ihr Weiterbetrieb scheiterte aber oft daran, dass die jüdische Gemeinde im Holocaust ausgelöscht worden war, wie z. B. in Wissembourg. Nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris wurde die Bewachung der Synagogen und Schulen verstärkt, in Straßburg z. B. patrouillierten monatelang schwer bewaffnete Militärs um die Gebäude.

 
Ehemalige Synagoge in Niederbronn-les-Bains, heute katholisches Pfarrhaus

Die jüdische Geschichte wird auch in Museen dokumentiert:

Szenen jüdischen Lebens im Elsass

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Von 1851 bis 1853 erschien in den „Archives israélites“ eine Serie von Artikeln „Lettres sur les mɶurs alsaciennes“ (Briefe über die elsässischen Bräuche) von Auguste Widal. Dieselben Artikel erschienen später in der Revue des Deux Mondes von 1857 bis 1859 unter dem Autornamen Daniel Stauben, die Artikel erschienen schließlich 1860 als Buch dem Titel „Scènes de la vie juive en Alsace“ (Szenen jüdischen Lebens im Elsass). Auguste Widal war ein renommierter Professor für antike Literatur in Frankreich. Für die späteren Veröffentlichungen nutzte er ein Pseudonym, weil es sich um seine eigenen Kindheitserinnerungen handelte und weil der naiv nostalgische Stil der Beschreibungen schlecht zum Ruf eines Literaturprofessors passte. Auguste Widal wurde als Sohn einer armen jüdischen Familie 1822 in Wintzenheim, heute ein Teil von Colmar, geboren. Diese Erläuterungen stammen aus dem Vorwort von Freddy Raphaël zur Neuauflage des Buches.[82] Der Autor selbst schreibt im Vorwort des Buches, dass er in seinem Buch einer untergegangenen Welt, die „Antiquité judaïque“, ein Denkmal errichten wollte.[83] Im folgenden Abschnitt werden die Darstellungen des Buches zum Leben der Juden aufgeführt, aber nicht die Rahmenhandlung und die literarischen Ausschmückungen.

 
Scenes de la vie Juif 1857

Das Buch spielt in Bollwiller, im Südelsass zwischen Colmar und Mülhausen, ca. 25 km von Wintzenheim entfernt. Das Leben der Juden war sehr traditionell und ihnen war bewusst, dass ihre nichtjüdischen Nachbarn „fortschrittlicher“ waren. Die Juden sprachen wenig oder kein Französisch, die offizielle Sprache im Elsass. Stattdessen sprachen sie Jeddisch, ein deutscher Dialekt, gemischt mit hebräisch-aramäischen Wörtern aus dem Alten Testament. Bei offiziellen Anlässen begrüßten sie sich mit „Shalom aleichem“ (Friede sei mit dir). Die Juden selbst bezeichneten ihre Sprache als Hebräisch.

Der Sabbat war ein wichtiger Tag der Woche, am Freitag Abend kam die Familie zusammen um den Sabbat zu feiern. Am Samstag selbst besuchte man die Synagoge. In kleinen Orten ohne Synagoge kamen mindestens 10 „erwachsene“ Männer, älter als 13 Jahre, genannt Minjan, zusammen um zu beten. Wohlhabende Juden hielten sich einen „Schabbes-Goi“, einen Nicht-Juden, der die Arbeiten wie Feuer machen, die ihnen am Schabbat untersagt waren, ausführte.[84] Die Juden selbst nannten sich zu dieser Zeit bereits Israeliten und Israel bezeichnete meist die Gemeinschaft der Juden, nicht das Land.[85]

Während der langen Winterabende erzählte man sich Geschichten von Geistern und Dämonen und wie man ihnen begegnete, so dass sie keinen Schaden anrichten können. Der Hintergrund dieser Geschichten war einerseits die Armut, andererseits die gegenseitige Hilfe der jüdischen Gemeinde.[86] Ein weiteres beliebtes Thema waren Geschichten aus der „Guten Alten Zeit“ der jüdischen Gemeinden in Worms und Frankfurt sowie Geschichten über den wundertätigen Rabbi Judah Löw in Prag.[87]

Zu dieser Zeit waren einige jüdische Familien zu Wohlstand gekommen und waren wichtige Kunden der örtlichen Bauern.[88] Ebenfalls konnten die Juden erstmals Land erwerben und begannen selbst als Bauern ihr Land zu bewirtschaften.[89] In den Dörfern mit jüdischer Gemeinde gab es oft einige sehr arme Juden, die aus Osteuropa vor den Pogromen geflohen waren und jetzt von den Zuwendungen der ansässigen Juden lebten.[85]

Zu einer Hochzeit schmückten sich die jungen Leute der Gemeinde. Es kamen viele Gäste der umliegenden Dörfer und man konnte einen Partner oder eine Partnerin finden. Die Heirat innerhalb der eigenen Gemeinde wurde nicht gerne gesehen. Der traditionelle Schadchen (Heiratsvermittler) vermittelte oft die Hochzeiten. Sein Honorar betrug 4 % der Mitgift der Braut.[90] Zu den Hochzeiten kamen auch Gäste aus dem nahen Deutschland, trotz der 100-jährigen Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich waren die Bindungen über den Rhein erhalten geblieben. Die jungen Frauen trugen ihr Haar offen, nach der Heirat mussten sie es mit einer Haube bedecken. Am Morgen der Hochzeit flochten die Matronen des Dorfes die Haare der jungen Frau und bedeckten sie mit einer kunstvoll verzierten Haube. Die alten, wohlhabenden Männer trugen französische Trachten vor der Revolution mit „Culottes“ (Kniebundhose). Nach der feierliche Trauungszeremonie zerschlug der Schames (s. u.) eine Flasche als Symbol, wie zerbrechlich das Glück ist.[91] Schon bei der offiziellen Verlobung wurde eine Tasse zerbrochen unter Masel tov (Viel Glück) Rufen.[92]

Im Winter kam manchmal ein Marionettenspieler in die Dörfer und spielte Heiligengeschichten am Sonntag für die Christen und Geschichten aus dem Alten Testament am Freitag für die Juden.[93]

Die jüdische Gemeinde verwaltete sich weitgehend selbst. Die „Chasan“ (Sänger) der Synagoge, 2 bis 3 Männer in kleinen Gemeinden, wurden dafür bezahlt, allerdings sehr gering. Sie hatten weiteres Einkommen durch den Unterricht der kleinen Kinder in der Judenschule (École israélite) und die Ausrichtung der jüdischen Feste. Sie fungierten als eine Art Gemeindearbeiter.[94] Der Leiter (instituteur) der Judenschule war eine wichtige Persönlichkeit, oft der einzige in der Gemeinde mit einer formalen Ausbildung, der korrektes Französisch sprach. Zu seinen Aufgaben gehörte nicht nur der Unterricht der Kinder, sondern auch das allgemeine, speziell das geistige Wohl der Gemeinde.[95] Eine weitere wichtige Person war der Schames: Schames ist das hebräische Wort für Schulklepper. Er hatte bestimmte Funktionen als niederer Gemeindediener.[96] Zusätzlich hatte er eine spezielle Beziehung zum Jenseits, er übernahm die Totenwache und wachte in der Nacht nach Jom Kippur allein in der Synagoge.[97]

Die Trauer um einen verstorbenen Angehörigen spielte eine wichtige Rolle im jüdischen Leben. Über Jahrhunderte als Minderheit verfolgt, war die Gemeinde auf ihre gegenseitige Solidarität angewiesen, der Verlust eines Menschen betraf alle. Orientalische Trauergesten hatten sich erhalten: Die Frauen gaben lautstark ihrer Trauer Ausdruck und zerzausten sich Haare und Kleider. Die ganze Gemeinde nahm teil, die Männer beteten mit dem Rabbi in einem eigenen Raum. Unter Anleitung des Shames wird die Zeremonie der „Méhila“ (hebräisch für Vergebung) ausgeführt: die Familie verabschiedet sich einzeln vom Toten. Der Trauerzug zum Friedhof erfolgte still, in der Kapelle wurde der Tote gewaschen und neu gekleidet und schließlich begraben. Acht Tage lang trauerte de Familie, die Nachbarn besuchten sie in dieser Zeit, um gemeinsam zu beten.[98]

Bei der Geburt vollzog man ein magisches Ritual zum Schutz von Mutter und Kind. Mit einem sogenannten Kreißmesser (vom deutschen Wort kreißen für gebären) wurden symbolische Kreise um die Mutter beschrieben. Jüdische Knaben werden am 8. Tag nach der Geburt beschnitten. Die Windel, in der das Kind während er Zeremonie lag, wird aufbewahrt und mit dem Names seines Vaters, dem Datum seiner Geburt und Wünschen für ein gutes Leben in hebräischen Buchstaben in Stickerei verziert. Sie wird Mappa genannt. Mit 3 Jahren spendet der Junge seine Mappa der Synagoge, wo sie aufbewahrt wird.[99]

 
Mappa im Musée Alsacien de Strasbourg

Der Autor schildert ausführlich die großen Feste, die das jüdische Jahr begleiten. Diese wurden sehr traditionell gefeiert, so ist das Passahfest (Ostern) voller Symbole der Versklavung in Ägypten und dem Auszug Auszug unter Moses. Es war üblich, dass die wohlhabenderen Familien ein armes Gemeindemitglied zum Fest einluden, oft einen fliegenden Händler, der Neuigkeiten aus den anderen Gemeinden erzählte.[100]

Der Autor schließt sein Buch mit 3 Anhängen: 2 Geschichten aus der Bibel, das Buch Rut und das Hoheslied. Im 3. Anhang berichtet er von Ludwig Wihl, einem deutschen Juden und Poeten, den er sehr schätzt. Hier schildert er das Schicksal des jüdischen Intellektuellen während der Jüdische Emanzipation im 19. Jahrhundert.[101]

Die Geburt

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Daniel Stauben schreibt nur wenig über das dritte große Ereignis im Leben der religiösen Juden: die Geburt. Man hat allerdings Zeugnisse über den Ablauf und den religiösen Hintergrund der Geburt im 19. Jahrhundert im Elsass. In den größeren Gemeinden gab es mindestens zwei Hebammen: eine für Christen und eine für Juden. Neben der medizinischen Betreuung der Gebärenden war genauso wichtig der religiöse Beistand, der Stand der Medizin erlaubte noch keine Rettung bei Komplikationen, daher war die vorsorgliche Anrufung Gottes und der biblischen Paare wie Adam und Eva, Abraham und Sarah oder Isaac und Rebecca wichtig. Am Tag der Geburt kam die Hebamme mit einem Gebärstuhl ins Haus der Frau, begleitet von älteren Frauen. Das Zimmer war mit frommen Sprüchen und Wünschen geschmückt, im Musée de Strasbourg sind einige Exemplare ausgestellt. Wichtig war die Abwehr von Lilith, im populären jüdischen Glauben die erste Frau Adams, die berüchtigt dafür war, dem Neugeborenen oder der Wöchnerin zu schaden als Rache für ihr Schicksal. Vor und während der Geburt führte man das oben beschriebene Ritual mit dem Kreißmesser aus. Der Rabbiner und männliche Angehörige beteten in einem benachbarten Raum. Nach der Geburt musste die Frau 9 Tage im Bett bleiben, dadurch musste sie nicht der Beschneidung ihres Kindes beiwohnen. Insgesamt musste sie sich 40 Tage nach der Geburt von den anderen fernhalten, die Gebärende galt als unrein und musste sich nach Ablauf in der Mikwe reinigen.[102]

Jüdische Eheverträge im 18. Jahrhundert im Elsass

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In der Zeit von 1747 bis 1790 findet man 28 jüdische Eheverträge in den Notariaten von Soultz-sous-Forêts und Wissembourg.

 
Jüdische Heirat im 18. Jahrhundert

Manche Verträge waren in Französisch, andere in Deutsch abgefasst. Jüdische Eheverträge (Ketubba) waren schon länger üblich. In ihnen wurde das Datum der Eheschließung, die Höhe der Mitgift und alle weiteren Verpflichtungen, vor allem materieller Natur, festgelegt. Die Hochzeit selbst fand in der Synagoge durch den Rabbiner statt. Auch der Vertrag wurde durch den Rabbiner ausgefertigt und von den Hochzeitsleuten und ihren Eltern unterschrieben. Im 18. Jahrhundert begannen einige jüdische Familien, diese Verträge durch die offiziellen staatlichen Stellen, die Notariate, ausstellen zu lassen. Dies diente der Anerkennung durch den Staat. Nach der Französischen Revolution erlangten die Juden das volle Bürgerrecht, die jüdische Hochzeit wurde durch den staatlichen Akt ergänzt. Neben den beteiligten Personen wurde die Mitgift detailliert beschrieben.

 
Jüdischer Ehevertrag im 18. Jahrhundert

Die 28 Eheverträge betrafen nicht nur französische Gemeinden, sondern auch benachbarte in Deutschland wie Bergzabern und Billigheim. In den Verträgen war häufig festgelegt, dass die Eltern des Bräutigams für die Wohnung sorgen müssen, ebenfalls für den Unterhalt in den ersten Jahren, dies auch manchmal durch die Eltern der Braut. Oft wurde auch festgelegt, dass der Bräutigam in das Geschäft seines Vaters eintreten darf. Auch der Bräutigam brachte eine Mitgift in die Ehe ein, die meist mit „Alles, was er besitzt“ beschrieben wurde.[103]

Jüdische Schulen im 19. Jahrhundert

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Vor den Napoleonischen Dekreten 1808 lag die Ausbildung der Juden in der Hand der Rabbiner oder Kantoren. Die Ausbildung war rudimentär, immerhin konnten 92 % der Männer und 38 % der Frauen ihren Namen schreiben, oft mit hebräischen Buchstaben. Nach 1816 mussten alle Gemeinden eine Schule für ihre Kinder einrichten. Die jüdischen Schulen wurden von den Konsistorien betrieben, die Gemeinden wollten die Finanzierung nicht übernehmen. Die Konsistorien hatten aber das Recht, ihre Schulen der Gemeinde zu übertragen. Diese mussten sie dann finanzieren und waren für die Einhaltung der Lehrpläne und die Qualifikation der Lehrer verantwortlich. Erst nach 1850 wurden auch Schulen für Mädchen obligatorisch. 1819 wurde die erste israelitische Grundschule in Straßburg eröffnet, 1824 eine Gewerbeschule. 1823 besuchten 70 Kinder die Straßburger Schule. Nach 1830 wurden praktisch alle jüdischen Schulen von den Gemeinden betrieben. 1851 gab es im Elsass 96 jüdische Lehrer. Lange war das Niveau der kleinen Schulen auf dem Land niedrig und wurde immer wieder kritisiert, so galten 1833 im Nordelsass nur die Schulen in Wissembourg und Niederbronn als qualifiziert. Langsam verbesserte sich das Niveau der Schulen. Eine wichtige Aufgabe war allen Kindern Französisch beizubringen, viele sprachen nur Jeddisch oder Deutsch. Wie zu der Zeit üblich wurden Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet, erst 1842 wurde die erste Mädchenschule in Straßburg gegründet. Sie erhielten Unterricht in den Grundfächern wie Französisch und Deutsch, etwas Hebräisch und Handarbeiten. Nach der Grundschule konnten sie ein Handwerk lernen, ein Fortschritt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschrieben 90 % der Männer und 77 % der Frauen ihre Heiratsurkunde mit lateinischen Buchstaben. Ein jüdischer Lehrer verdiente ca. 200 Fracns im Jahr, dies war wenig, es war aber üblich, dass er von den reichen Eltern zum Essen eingeladen wurde. Nach der Annexion durch Deutschland 1871 wurden die Konfessionsschulen durch Multi-Konfessionschulen abgelöst. Diese waren christlich orientiert, die jüdischen Schüler waren vom Religionsunterricht und dem Morgengebet befreit und erhielten eigenen Unterricht in ihrer Religion und Geschichte („Kodesh“). Reiche jüdische Familien ließen ihre Kinder zu Hause auf Französisch unterrichten und schickten sie später auf Internate in Frankreich.[104]

Bevölkerungsentwicklung 15. bis 20. Jahrhundert

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Angaben zur jüdischen Bevölkerung des Elsass sind unzuverlässig und wenig verfügbar. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit hat man, wenn überhaupt, Familien gezählt. Daraus kann man die Anzahl der Personen ungefähr ableiten. Durch Vertreibung und Einwanderung änderte sich die Zahl der Juden häufig. Erst ab 1784 war es Pflicht, ein Einwohnerregister (registre d’état civil) zu führen.

Die Frage, wie viele Juden heute (2022) im Elsass leben, kann man nicht beantworten. In Frankreich ist die Erhebung von persönlichen Daten bezüglich Ethnie, Religion und ähnlichen Attributen verboten. Bekannt ist, dass ca. 1 % der französischen Bevölkerung sich zum Judentum bekennt. Weiter bekannt ist, dass der Anteil der Juden im Elsass höher ist als in Frankreich gesamt. Bei ca. 1,9 Mio. Elsässern (2020) kann man schätzen, dass zwischen 19.000 und 32.000 Juden im Elsass leben.

Dieser Abschnitt fasst Aussagen der obigen Kapitel zusammen. Weitere Informationen stammen aus[105]. Dort sind die Zahlen z. T. bis auf Gemeindeebene heruntergebrochen.

Datum Personen Familien Anmerkung
Ende 15. Jahrhundert 35
Beginn 16. Jahrhundert 110
1689 2.600 525
1716 6.800 1.300
1732 10.000 1.675
1784 20.000 4.000 Volkszählung der Juden im Elsass durch Ludwig XVI.[106]
1806 1.234 in Straßburg
1784 16.000 im Département Bas-Rhin
1831 100.000 in ganz Frankreich
1866 36.000
1900 32.000 in Elsass-Lothringen
1910 1,7 % der Bevölkerung des Elsass ist jüdisch
2020 19.000 bis 32.000 siehe Anmerkung oben

Rabbiner

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Die Webseite Judaismus im Elsass und in Lothringen listet ca. 140 Rabbiner auf, hier eine Auswahl von bedeutenden Rabbinern[107]

 
Moïse Ginsburger (1865–1949)
 
Einführung des Großrabbiners Harold Avraham Weill in Straßburg (10. September 2017)
  • David Sinzheim (1745–1812)
  • Seligmann Goudchaux (1770–1849)
  • Arnaud Aron (1807–1890)
  • Adolf Ury (1849–1915)
  • Moïse Ginsburger (1865–1949), Historiker und Gründer der Société d'Histoire du Judaïsme d'Alsace et de Lorraine[108]
  • René Hirschler (1905–1945)
  • Max Warschawski (1925–2006)
  • Claude Heymann (1952–), Präsident der Association Morasha pour le Patrimoine du judaïsme alsacien
     
    Claude Heymann, fotografiert von Claude Truong-Ngoc (Februar 2015)
  • Harold Weill (1983–)

Rückblick

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Den Rückblick auf 1000 Jahre Juden im Elsass kann man als eine Folge von Unterdrückung und Verfolgung sehen. Aber auch als den erfolgreichen Kampf einer kleinen Minderheit um einen Platz in der Gesellschaft und eine bewundernswerte Resilienz. Immer wieder fanden die Juden Nischen, in denen sie überleben und manchmal sogar prosperieren konnten. Gleichzeitig haben sie ihre Geschichte und Religion bewahrt und an geänderte Zeiten angepasst.

Der jüdische Soziologe Freddy Raphaël kommentierte[109] die Geschichte der Juden im Elsass wie folgt (leicht verkürzt): In zehn Jahrhunderten Präsenz im Elsass war es den Juden nach und nach gelungen, sich in die Städte und Dörfer zu integrieren. Für sie war die Wanderung beendet. Der Jude war nun Teil der Landschaft und seine Bräuche hatten ihre Exotik verloren. Ihre Teilhabe an der modernen Gesellschaft führte nicht zur Verleugnung ihres Glaubens.

Literatur

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  • Michel Krempper: Histoire des Juifs d'Alsace (Geschichte der Juden im Elsass). Yoran Verlag, Fouesnant 2021, ISBN 978-2-36747-084-9.
  • Freddy Raphael: Les Juifs d'Alsace et de la Lorraine (Die Juden im Elsass und Lothringen). Albin Michel, Paris 2018, ISBN 978-2-226-43918-5
  • Daniel Stauben: Scènes de la vie juive en Alsace, Éditions Degorce, Horbourg-Wihr 2019, ISBN 978-2-491262-00-6
  • Les Saisons d'Alsace - Dix siècles de présence Juive en Alsace (10 Jahrhunderte Juden im Elsass), DNA Strasbourg, 2015, ISSN 0048-9018
  • Alain Kahn: 350 expressions judéo-alsaciennes, La Nué Bleue, Strasbourg 2022, ISBN 978-2-7165-0916-9
  • Musée alsacien: Mémoires du judaïsme en Alsace, Les collections du Musée alsacien, Strasbourg 2013, ISBN 978-2-35125-106-5
  • Freddy Raphaël: Juifs d'Alsace aux XXe siècle, La Nuée Bleue, Strasbourg 2014, ISBN 978-2-71650-844-5
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Commons: Judentum im Elsass – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Michel Krempper: Histoire des Juifs d'Alsace, S. 33 f.
  2. Michel Krempper: Histoire des Juifs d'Alsace, S. 53 f.
  3. Michel Krempper: Histoire des Juifs d'Alsace. S. 40 ff.
  4. Acim Bourner: Baedeker Reiseführer Elsass, Vogesen. Baedeker, Ostfildern 2015, ISBN 978-3-8297-1365-8, S. 202.
  5. Max Warschawski: Dès l'an mille, une première communauté. In: Histoire des Juifs d'Alsace. 2020, abgerufen am 5. Dezember 2022 (französisch).
  6. Michel Kempper: Histoire des Juifs d'Alsace. S. 54.
  7. a b c André Marc Haarscher, Malou Schneider: Une brève histoire des Juifs d'Alsace. In: Musée Alsacien (Hrsg.): Mémoire du judaïsme en Alsace. Les Collections du Musée alsacien, Strasbourg 2013, ISBN 978-2-35125-106-5, S. 28 ff.
  8. Michel Krempper: Histoire des Juifs d’Alsace, S. 63 ff.
  9. Michel Krempper: Histoire des Juifs d’Alsace, S. 71 ff.
  10. Michel Krempper: Histoire des Juifs d’Alsace, S. 87 ff.
  11. Georges Bischoff: Les humanistes et les juifs. In: Les saisons d'Alsace. Nr. 66. DNA, Strasbourg 2015, S. 34 ff.
  12. Johannes Reuchlin und die jüdische Kultur. In: Deutsche Digitale Bibliothek. 2022, abgerufen am 8. Dezember 2022.
  13. Michel Krempper: Histoire des Juifs d’Alsace, S. 98 f.
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