Pigoraptor
Pigoraptor ist eine Gattung einzelliger, einfach begeißelter (uniflagellarer) Protisten. Die beweglichen (motilen) Geißelzellen sind länglich-oval oder rundlich. Die glatte Geißel dieser Schwimmzellen entspringt aus einem Punkt in der Mitte der Seite, ist nach hinten gerichtet, und endet in einem langen Acronem.[A. 1] Die Zellen sind nackt (ohne Schale oder Schuppen – Testa bzw. Theca), manchmal bilden sie kurze, dünne Pseudopodien aus. Pigoraptor kann Zellverbände (Cluster) aus mehreren Einzelzellen bilden. Die Gattung ernährt sich räuberisch, zu ihrer Beute gehören heterotrophe Metakinetoplastina (ehem. Bodonida), vor allem sich langsam bewegende und unbewegliche Zellen oder Zysten.[1]
Pigoraptor | ||||||||||||
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REM-Aufnahme von P. vietnamica (Schwimm- oder Geißelzelle). | ||||||||||||
Systematik | ||||||||||||
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Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||
Pigoraptor | ||||||||||||
Tikhonenkov, Hehenberger, Mylnikov & Keeling 2017[1] |
Beschreibung
BearbeitenPigoraptor vietnamica und P. chileana, gehören verwandtschaftlich zu den Filasterea, und sind vermutlich auch verwandt mit Syssomonas multiformis (eine Spezies, die in phylogenomischen Analysen mit der Gattung mit Corallochytrium eine neue Klade Pluriformea bildet). Alle drei Arten sind räuberische Flagellaten, die relativ große eukaryotische Einzeller erbeuten, und alle drei scheinen auch eine komplexe Lebensgeschichte mit mehreren unterschiedlichen Stadien, einschließlich multizellulärer Cluster, aufzuweisen.[1]
Lebenszyklus
BearbeitenMutmaßliche Lebensstadien von Pigoraptor vietnamica: Schwimmende Geißelzellen (Flagellaten können lange, dünne, manchmal verzweigte Filopodien bilden, die sich am Substrat anheften können. Die Geißelzellen können manchmal auch breite Lobopodien aufweisen. Sie können ihre Geißel zurückziehen und rundlich werden, um sich entweder in zwei Tochter-Geißelzellen zu teilen oder in ein zystisches Stadium überzugehen. Daraus können wiederum zwei begeißelte Tochterzellen entstehen. Die Zellen können auch locker zusammenhängende Zellverbände bilden, die sich gemeinsam ernähren und leicht wieder zerfallen.[3]
Die Lebensstadien von Pigoraptor chileana sind denen von P. vietnamica sehr ähnlich, aber P. chileana zeigt eine viel geringere Fähigkeit zur Bildung von Filopodien und Lobopodien (solche Stadien sind bei P. chileana extrem selten).[3]
Arten
BearbeitenArtenliste gemäß der Taxonomie des National Center for Biotechnology Information (NCBI):[4]
Gattung Pigoraptor Tikhonenkov, Hehenberger, Mylnikov & Keeling 2017[1]
- Pigoraptor chileana Tikhonenkov, Hehenberger, Mylnikov & Keeling 2017 [Opisthokonta sp. DVT-2017b] (Abkürzung Pchi[5])
- Referenzstamm: Opistho-2 – Typlokalität: Bodensedimente einer temporär überfluteten Wiese (d. h. Süßwasser) in der Nähe des Lago Blanca,[6] Feuerland (Chile).
- Pigoraptor vietnamica Tikhonenkov, Hehenberger, Mylnikov & Keeling 2017 [Opisthokonta sp. DVT-2017a] (Typusart, Abkürzung Pvie[5])
- Referenzstamm: Opistho-1 – Typlokalität: Süßwasserreservoir Dak Minh[7] (Schlicksand am Uferbereich), Provinz Đắk Lắk, Südvietnam.
Etymologie
BearbeitenDer Gattungsname Pigoraptor setzt sich zusammen aus lateinisch piger, deutsch ‚faul‘, englisch lazy und raptor, deutsch ‚räuber‘, englisch predator, bedeutet also „fauler Räuber“.
- Das Art-Epitheton vietnamica ist neulateinisch und bedeutet ‚aus Vietnam‘ oder ‚zu Vietnam gehörig‘, ‚in Vietnam lebend‘.
- Analog bedeutet das Art-Epitheton chileana ‚aus Chile‘, ‚zu Chile gehörig‘ oder ‚in Chile lebend‘.[1]
Kultivierung und Sequenzierung
BearbeitenBei den Klonen (Stämmen) Opistho-1 und Opistho-2 (von P. vietnamica respektive P. chileana) wurde wie folgt vorgegangen: Zwanzig Einzelzellen jedes Klons (bei Opistho-1 nochmals zusätzlich elf Einzelzellen) wurden in 0,2 mℓ dünnwandige Mikroreaktionsgefäße (PCR-Gefäße) übertragen, die 2 μℓ Zelllyse-Puffer[A. 3] enthielten. Die Sequenzierung wurde dann auf der Plattform Illumina MiSeq mit Leselängen von 300 bp durchgeführt.[1]
Genom und Transkriptionsfaktoren
BearbeitenDie Untersuchung von Genen, die mit der Multizellularität von Tieren in Verbindung stehen, ergab, dass diese neuen Filasterea ein ähnliches Repertoire an Genen zur Zelladhäsion aufweisen wie andere Arten dieser Gruppe.[1]
Im Jahr 2024 fanden Gao et al. heraus, dass einige einzellige Holozoa Sox-artige Gene besitzen. D. h. sie kodieren Proteine, die wie der Transkriptionsfaktor Sox-2 DNA binden.[A. 4] Unter diesen Holozoa befanden sich neben den Choanoflagellaten Mylnosiga fluctuans (Myflu )[8] und Salpingoeca helianthica (Salhel ) auch Filasterea wie die beiden Spezies (Pvie und Pchi ) von Pigoraptor. Die Sox-HMG-Sequenzen von Pvie, Pchi, Myflu und Salhel bilden eine Schwesterklade zu den tierischen Sox-Genen. Bekannte Sox-ähnliche Sequenzen aus anderen Choanoflagellaten (und erst recht Filasterea) zeigen dagegen eine geringere Verwandtschaft und größere Abweichungen, befinden sich also außerhalb der Sox-Hauptklade. Dies deutet darauf hin, dass
- die Sox-Gene bereits vor dem letzten gemeinsamen Vorfahren der mehrzelligen Tiere (Metazoa) entstanden sind, und
- viele einzellige Holozoa ihre Sox-Gene entweder verloren haben, oder dass diese degeneriert sind.
Alle Aminosäuren, die für das sequenzspezifische Auslesen von Basen in modernen Sox-Proteinen entscheidend sind, sind auch in den Sox-Varianten von Pvie, Pchi, Myflu und Salhel konserviert. Dies ließ die Vermutung aufkommen, dass diese Sox-Varianten auch die gleichen DNA-Motive binden können wie ihre Gegenstücke in Säugetieren. Um diese Vermutung zu testen, wählten Gao et al. repräsentative Sox-Sequenzen von Einzellern aus. Unter diesen befanden sich insbesondere Pchi (als Filasterea-Mitglied) und Salhel (als Choanoflagellat). Es stellte sich schließlich heraus, dass diese Proteine eine Sequenzspezifität aufweisen, die sich nicht vom Sox2 von Mäusen unterscheidet.[5]
Bildergalerie
BearbeitenAnmerkungen
Bearbeiten- ↑ a b
Acronem: Der schlanke Abschnitt einer Geißel (Wiktionary: acroneme – englisch). Unterscheide:
Axonem: Bündel von neun Mikrotubuli, die das innere Gerüst eines Ciliums oder Flagellums bilden, mit zwei zusätzlichen zentralen Mikrotubuli, die die anderen verbinden, wenn das Cilium/Flagellum beweglich ist (Wiktionary: axoneme – englisch). - ↑ Amoebidium ist als Vertreter der Ichthyosporea angegeben, Pigoraptor als Vertreter der Filasterea.
- ↑ 0,2 % Lösung von Triton X-100 (Octoxinol 9) und RNase-Inhibitor)
- ↑ Die Sox-Proteinfamilie teilt die HMG-Box genannten Proteindomänen.
- ↑
Morphologie und Lebensformen von P. vietnamica:
- a,b,h,i: Gesamtansicht einer Zelle (Differentialinterferenzkontrast- bzw. REM-Aufnahmen)
с: Aggregation von Geißelzellen. d: Amoeboflagellat mit Filopodien. e: Zelle mit Lobopodien. f: Zyste. g: Zweiteilung. ac: Acronem ([w]); cv: kontraktile Vakuole; gr: Rille (groove); Balken: a-g: 10 μm, h: 4 μm, i: 2 μm.
- ↑
Gesamtansicht und Geißelstruktur von Pigoraptor vietnamica (TEM-Aufnahmen):
- a: Längsschnitt durch die Zelle. b,c: Längsschnitt durch die Geißel.
- d-f: Querschnitte durch die Geißel im Übergangsbereich.
- ↑
Schnitte des Zellkerns und anderer Strukturen von P. chileana:
a: Zellkern. b: Golgi-Apparat. c: Mitochondrium. d,e: Zellkern & Filopodien. f: Nahrungsvakuole. g: Exozytose. h: Reservesubstanz. i: sich teilende symbiotische Bakterien. an: flagellares Axonem ([w]); bc: Bakterium; ec: Ectoproct („Analsegment“);[0] fp, Filopodium; fv: Nahrungsvakuole (food vacuole; Ga: Golgi-Apparat; mt: Mitochondrium; n: Zellkern (Nukleus); nu: Nucleolus; rs: Reservesubstanz; sb: symbiotische Bakterien; Balken: a: 1 μm, b-d,i: 0,5 μm, e: 0,2 μm, f,g,h: 1 μm.
- ↑
Zellkern und Anordnung der Basalkörper von P. vietnamica:
- a: Teil der Zelle, der den Zellkern und den Basalkörper der Geißel (Flagellum) enthält.
- b: Nicht-flagellarer Basalkörper
- c: flagellarer Basalkörper (Geißelbasalkörper) und umgebende Strukturen.
- ↑
Anordnung der beiden Basalkörper relativ zueinander (Serienschnitte, P. vietnamica):
fbb: flagellarer Basalkörper (Geißelbasalkörper); mct: Mikrotubuli; n: Zellkern (Nukleus); nfbb, Nicht-flagellarer Basalkörper; Balken: alle 0,5 μm. - ↑
Morphologie und Lebensformen von P. chileana:
- a,b,h,i: Gesamtansicht einer Zelle (Differentialinterferenzkontrast- bzw. REM-Aufnahmen).
с: Aggregation von Zellen. d: Zyste. e: Zweiteilung. f,g: Zelle mit kurzen Lobopodien & Filopodien. - ↑
Gesamtansicht, Geißelstruktur und Geißelwurzelsystem von Pigoraptor chileana:
- a: Gesamtansicht des Zellschnitts.
- b–d: Geißel (Flagellum).
- e–h: Flagellarer Basalkörper und umgebende Strukturen.
- ↑
Anordnung der Basalkörper und Struktur der Filopodien von Pigoraptor chileana.
- a–f: Serienschnitte der Basalkörper. g–i: Filopodien.
Einzelnachweise
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0. | ↑ Bo Tjeder: Genital structures and terminology in the order Neuroptera (PDF). In: Entomologiske Meddelelser (Entomological Announcements/Entomologische Ankündigungen), Band 27, 1954, S. 23–40. Auf: Danish Biodiversity Information Facility (DanBIF), Københavns Universitet (englisch). Siehe auch:
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- ↑ a b c d e f g h i Elisabeth Hehenberger, Denis V. Tikhonenkov, Martin Kolisko, Javier del Campo, Anton S. Esaulov, Alexander P. Mylnikov, Patrick J. Keeling: Novel Predators Reshape Holozoan Phylogeny and Reveal the Presence of a Two-Component Signaling System in the Ancestor of Animals. In: Current Biology, Band 27, Nr. 13, 10. Juli 2017, S. 2043–2050; doi:10.1016/j.cub.2017.06.006, PMID 28648822, Epub 22. Juni 2017 (englisch).
- ↑ Denis V. Tikhonenkov, Elisabeth Hehenberger, Anton S. Esaulov, Olga I. Belyakova, Yuri A. Mazei, Alexander P. Mylnikov, Patrick J. Keeling: Insights into the origin of metazoan multicellularity from predatory unicellular relatives of animals. In: BMC Biology. 18. Jahrgang, Nr. 39, 9. April 2020, ResearchGate:340538125, doi:10.1186/s12915-020-0762-1, PMID 32272915, PMC 7147346 (freier Volltext) – (englisch).
- ↑ a b Núria Ros-Rocher, Alberto Pérez-Posada, Michelle M. Leger, Iñaki Ruiz-Trillo: The origin of animals: an ancestral reconstruction of the unicellular-to-multicellular transition. In: Open Biology, 18. Juni 2022; doi:10.1098/rsob.2003591 (englisch).
- ↑ NCBI Taxonomy Browser: Pigoraptor. Details: Pigoraptor Tikhonenkov, Hehenberger, Mylnikov et Keeling 2017 (genus).
- ↑ a b c Ya Gao, Daisylyn Senna Tan, Mathias Girbig, Haoqing Hu, Xiaomin Zhou, Qianwen Xie, Shi Wing Yeung, Kin Shing Lee, Sik Yin Ho, Vlad Cojocaru, Jian Yan, Georg K. A. Hochberg, Alex de Mendoza, Ralf Jauch: The emergence of Sox and POU transcription factors predates the origins of animal stem cells. In: Nature Communicatios, Band 15, Nr. 9868, 14. November 2024; doi:10.1038/s41467-024-54152-x, hdl:1810/376326 (englisch).
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Lago Blanca, Feuerland (Chile):
- Lago Blanca. Auf Google Maps.
- Estación Hidrometrica Lago Blanco, Lago Blanco – Free Camping Area. Auf Mapcarta (de).
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Reservoir Dak Minh (Hồ Đắk Minh/Lake Dak Minh), Vietnam:
- Hồ Đăk Minh. Auf Google Maps.
- Hồ Đăk Minh. Auf Mapcarta (de).
- ↑ NCBI Taxonomy Browser: Mylnosiga fluctuans Carr, Richter and Nitsche 2017 (species).