Tramadol
Tramadol ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Opioide und wird zur Behandlung mäßig starker bis starker Schmerzen verwendet. Von Grünenthal wurde die Substanz synthetisch entwickelt und 1977 als Arzneimittel (Tramadol-HCl) unter dem Namen Tramal auf den Markt gebracht.
Strukturformel | ||||||||||||||||||||||
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1:1-Gemisch aus (1R,2R)-Tramadol (links) und (1S,2S)-Tramadol (rechts) | ||||||||||||||||||||||
Allgemeines | ||||||||||||||||||||||
Freiname | Tramadol | |||||||||||||||||||||
Andere Namen | ||||||||||||||||||||||
Summenformel | C16H25NO2 | |||||||||||||||||||||
Kurzbeschreibung |
weißes bis fast weißes, kristallines Pulver (Hydrochlorid)[1] | |||||||||||||||||||||
Externe Identifikatoren/Datenbanken | ||||||||||||||||||||||
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Arzneistoffangaben | ||||||||||||||||||||||
ATC-Code | ||||||||||||||||||||||
Wirkstoffklasse | ||||||||||||||||||||||
Eigenschaften | ||||||||||||||||||||||
Molare Masse | 263,38 g·mol−1 | |||||||||||||||||||||
pKS-Wert |
9,41 (Hydrochlorid)[1] | |||||||||||||||||||||
Löslichkeit |
leicht löslich in Wasser und Methanol, sehr schwer löslich in Aceton (Hydrochlorid)[1] | |||||||||||||||||||||
Sicherheitshinweise | ||||||||||||||||||||||
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Toxikologische Daten | ||||||||||||||||||||||
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen (0 °C, 1000 hPa). |
Geschichte
BearbeitenDie Firma Grünenthal in Stolberg beauftragte den damaligen Mitarbeiter Kurt Flick, einen neuen Hustenblocker (Antitussivum) zu entwickeln. 1962 synthetisierte er das isomere Gemisch „L/201“, das in der pharmakologischen Prüfung eine hohe schmerzstillende (analgetische) Wirkung aufwies und daraufhin zum Patent angemeldet wurde. Flicks Nachfolger Ernst Frankus (1928–1995) gelang es, durch isomere Trennung das Transisomer Tramadol zu isolieren, welches 1977 von Grünenthal patentiert wurde.[4][5][6]
Pharmakodynamik
BearbeitenTramadol ist ein Agonist der μ-, δ- und κ-Opioidrezeptoren, an deren Strukturen im Nervengewebe er bindet. Die Affinität ist jedoch gering und zeigt auch keine besondere Spezifität zu den einzelnen Opioidrezeptoren. Die Dämpfung der Schmerzwahrnehmung wird daher auch durch andere Mechanismen vermittelt: durch Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin in das Neuron, zudem kommt es durch die serotoninfreisetzende Wirkung über die 5-HT2-Rezeptoren zu einem Anstieg der Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt durch das (−)-Enantiomer.[7][8] Dieser Wirkmechanismus erklärt auch die leicht antidepressive und anxiolytische (angstlösende und beruhigende) Wirkung. Das vermehrte Auftreten von Übelkeit als unerwünschte Wirkung wird auch durch die verstärkte Serotonin-Freisetzung erklärt.
Die analgetische Potenz beträgt ein Zehntel der von Morphin. Tramadol ist neben Meptazinol und Nalbuphin eines der drei zugelassenen injizierbaren Opioid-Analgetika, die in Deutschland nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.
Die beiden Enantiomere des Tramadols [(1R,2R)-Tramadol und (1S,2S)-Tramadol] und deren Metabolite, insbesondere die am Sauerstoff demethylierten Derivate (Nortramadole), besitzen unterschiedlich starke pharmakologische Wirkungen [μ-Opioid-Bindung Ki(μM)]:[9]
- (1R,2R)-Tramadol: 5,1
- (1S,2S)-Tramadol: 120
- (1R,2R)-Nortramadol: 0,02
- (1S,2S)-Nortramadol: 1,8
Pharmakokinetik
BearbeitenTramadol wird bei oraler Gabe zu etwa 95 % resorbiert. Die orale Bioverfügbarkeit wird mit 30 % und die Plasmahalbwertszeit mit etwa 4 Stunden angegeben.[10]
Die analgetische Wirkdauer (einer Einzeldosis von 50 bis 100 mg) beträgt 2 bis 4, bei Retardpräparaten 8 bis 12 Stunden.[11]
Anwendungsgebiete
BearbeitenTramadol ist angezeigt zur Behandlung von mäßig starken bis starken Schmerzen und kann peroral (als Kapsel à 50 mg, Tropfen (50 mg = 20 Tropfen) oder 50 bis 200 mg Wirkstoff enthaltende Retardtablette), rektal als Zäpfchen (100 mg) und intravenös (als Injektionslösung mit einer Konzentration von 50 mg/ml) verabreicht werden.
Außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete wird Tramadol im sogenannten Off-Label-Use zur Behandlung des Restless-Legs-Syndroms verwendet.
Eine weitere Off-Label-Anwendung ist die Behandlung von ejaculatio praecox (vorzeitiger Samenerguss).[12][13]
In Deutschland sind Tramadoltropfen bei starken Schmerzen auch für Kinder ab einem Jahr zugelassen, wobei sich die Dosierung am Körpergewicht orientiert.[14] Die korrekte Dosierung gewährt die Tropfvorrichtung des Behältnisses.
In Australien ist dementgegen Tramadol in Form von Tropfen nicht für Kinder unter 12 Jahren zugelassen. In diesem Land fehlen zu dieser Patientengruppe die Hinweise zur Vorsicht und Dosierung. Da die Stärke des Medikaments mit zum Teil schwerwiegenden Folgen unterschätzt wurde, warnt die australische Arzneimittelbehörde Therapeutic Goods Administration (TGA) vor entsprechendem Off-Label-Use.[15]
Nebenwirkungen
BearbeitenNebenwirkungen wie Schwitzen, Sedierung und Verwirrtheit können auftreten, ebenso wie Miktionsschwierigkeiten, Schläfrigkeit und verschwommene Sicht. In therapeutischer Dosierung hat Tramadol wegen seiner geringen μ-Selektivität keinen beachtenswerten Einfluss auf die Atmung und den Pulmonalarteriendruck. Häufig wird eine starke Übelkeit beobachtet, sowohl bei oraler Gabe als auch bei zu schneller Injektion. Blutdruck und Pulsfrequenz werden kaum beeinflusst. Von Krampfanfällen wurde berichtet, insbesondere bei Gabe von Dosen oberhalb der therapeutischen Dosis. Da Tramadol in die Muttermilch übergeht, wurde von der neuseeländischen Arzneimittelbehörde eine Warnung veröffentlicht, dass Säuglinge durch den Wirkstoff geschädigt werden könnten.[16] Das Pharmakovigilanzzentrum der Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete 2020 über ein Risikosignal für Hyperakusis unter Tramadol. Drei Viertel der Betroffenen seien Frauen. Soweit angegeben, tritt die Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen normaler Lautstärke größtenteils innerhalb eines Tages nach Einnahme auf.[17]
Ebenso zeigen neuere Studien ein erhöhtes Risiko schwerer Hypoglykämien[18] und Hyponatriämien[19] mit teils tödlichem Ausgang.
Wie auch bei einigen anderen Opioiden kann Tramadol Xerostomie (Mundtrockenheit) verursachen.[20]
Analytik
BearbeitenDie zuverlässige Bestimmung von Tramadol in unterschiedlichem Untersuchungsmaterial wie Blutserum, Blutplasma, Urin oder Haaren gelingt nach angemessener Probenvorbereitung durch Kopplung der Gaschromatographie oder HPLC mit Massenspektrometrie.[21][22][23][24]
Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen
BearbeitenPharmakologische
BearbeitenTramadol kann bei Verwendung zusammen mit Bupropion und MAO-Hemmern schwerwiegende Nebenwirkungen entwickeln.
Wechselwirkungen treten auch auf mit oralen Antikoagulantien,[25] Alkohol, Benzodiazepinen (Dämpfung des Atemzentrums bis hin zum möglichen Atemstillstand) und serotoninergen Stoffen (Gefahr des Serotonin-Syndroms[26][27]). Zu serotoninergen Stoffen zählen SSRI-Antidepressiva wie z. B. Fluoxetin und Citalopram und auch illegale Drogen wie Ecstasy und Kokain. Auch rezeptfreie Zubereitungen aus Johanniskraut (Johanniskrauttee, Johanniskrautextrakt in Kapseln usw.) können ein Serotonin-Syndrom auslösen.
Chemisch-physikalische
BearbeitenTramadol-Injektionslösungen sind mit parenteralen Darreichungsformen von Diazepam, Diclofenac, Flunitrazepam, Glyceroltrinitrat, Indometacin, DL-Lysinmonoacetylsalicylat, Midazolam, Piroxicam und Phenylbutazon unverträglich, wenn sie in der gleichen Spritze aufgezogen werden; es kommt zur Ausflockung.[28]
Gewöhnung und Abhängigkeitspotential
BearbeitenAls Agonist (u. a.) des μ-Opioidrezeptors besteht grundsätzlich ein Abhängigkeitspotential, besonders bei nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch. Generell sollte die Dosis nach dem Grundsatz „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“ gegen den Schmerz titriert werden.
Herstellung
BearbeitenTramadol wird industriell synthetisch hergestellt.[9] Die zweistufige chemische Synthese geht vom 3-Bromanisol aus, aus deren Grignard-Verbindung durch die Umsetzung mit racemischen 2-Dimethylaminomethylcyclohexanon die Zielverbindung resultiert:[29]
Isomerie
BearbeitenTramadol [2-(Dimethylaminomethyl)-1-(3-methoxyphenyl)cyclohexanol] besitzt zwei stereogene Zentren am Cyclohexanring. Von 2-(Dimethylaminomethyl)-1-(3-methoxyphenyl)cyclohexanol gibt es also vier Konfigurationsisomere:
- (1R,2R)-Form,
- (1S,2S)-Form,
- (1R,2S)-Form und die
- (1S,2R)-Form.
Bei der Synthese entstehen die (1R,2R)-Form und die (1S,2S)-Form als Hauptprodukt in gleicher Menge. In geringerer Menge wird bei der Synthese das Racemat aus der (1R,2S)-Form und der (1S,2R)-Form gebildet. Die Isolation der (1R,2R)-Form und (1S,2S)-Form und somit die Abtrennung des Nebenprodukt-Racemates aus (1R,2S)-Form und der (1S,2R)-Form gelingt über die fraktionierende Kristallisation der Hydrochloride. Arzneilich verwendet wird Tramadol als Racemat aus der (1R,2R)-Form und der (1S,2S)-Form in Form seines Hydrochlorids. Die (1R,2R)-Form wird auch (+)-Tramadol, die (1S,2S)-Form (−)-Tramadol genannt.
Die Trennung des Racemates aus der (1R,2R)-Form und der (1S,2S)-Form mit (R)- oder (S)-Mandelsäure ist in der Literatur[30] beschrieben, findet jedoch keine industrielle Anwendung, da Tramadol als Enantiomerengemisch benutzt wird, obwohl die unterschiedliche physiologische Wirkung der (1R,2R)- und (1S,2S)-Enantiomere belegt[31] ist.
Das Hydrochlorid des Racemates aus der (1R,2R)-Form und der (1S,2S)-Form, das Grünenthal in Deutschland als Arzneistoff entwickelte, wurde im ursprünglichen Patent[32] und in den allermeisten Veröffentlichungen[33] fälschlicherweise als (±)-trans-Tramadol beschrieben. Im Zuge des Zulassungsverfahrens in den Vereinigten Staaten wurde der Name in (±)-cis-Tramadol geändert.[34] Alternativ kann der racemische Arzneistoff (±)-cis-Tramadol auch als (±)-(1R*,2R*)-Tramadol bezeichnet werden, wobei mit (1R*,2R*) die relative Stereochemie angegeben ist, es sich also um ein 1:1-Gemisch der (1R,2R)-Form und der (1S,2S)-Form handelt.
Tramadol als scheinbarer Naturstoff
Bearbeiten2013 veröffentlichten Wissenschaftler aus Frankreich, der Schweiz und Kamerun die Entdeckung, dass Tramadol in der Wurzelrinde der afrikanischen Arzneipflanze Nauclea latifolia enthalten ist.[35] Weitere Untersuchungen im Jahr 2014 durch deutsche und kamerunische Wissenschaftler ergaben jedoch, dass das Vorkommen von Tramadol in Nauclea latifolia eine Folge davon ist, dass in der betreffenden Region Rinder regelmäßig mit dem Wirkstoff behandelt werden, es so zu einer Kreuzkontamination des Bodens durch Urin und Fäkalien der Tiere kommt und die Pflanze das Tramadol hieraus aufnimmt und anreichert.[36]
Handelsnamen
BearbeitenTramadol ist sowohl als Monopräparat wie auch als Kombinationspräparat erhältlich:
Monopräparate
BearbeitenAdamon (A), Amadol (D), Contramal (A), Cromatodol (A), Ecodolor (CH), Jutadol (D), Lanalget (A), Noax (A), Nobligan (A), Tramabene (CZ), Tramal-long (D), Tradolan (A,S), Tradonal (CH), Tramagit (D), Tramal (D, A, CZ), Tramundin und Tramundin retard (D, CH), Travex (D), Ultram, Tramal Retard (CZ), zahlreiche Generika (D, A, CH)
Kombinationspräparate
BearbeitenMit Paracetamol: Dolevar (D), Zaldiar (D, A, CH, B), sowie Generika von z. B. TAD, Stada und Hexal
Verbreitung und Missbrauch
BearbeitenIn West- und Nordafrika ist die Verwendung von Tramadol als Droge verbreitet.[37] Es stammt hauptsächlich von indischen Generika-Herstellern. Einem Bericht aus dem April 2018 zufolge wurden in den vergangenen fünf Jahren in Afrika südlich der Sahara etwa drei Tonnen Tramadol beschlagnahmt. Der Handel mit Tramadol dient auch Terrorgruppen wie Boko Haram oder dem Islamischen Staat als Finanzierungsquelle.[38]
Siehe auch
BearbeitenWeblinks
BearbeitenEinzelnachweise
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- ↑ a b Datenblatt Tramadol hydrochloride bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 24. April 2011 (PDF).
- ↑ Eintrag zu Tramadol in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM), abgerufen am 25. März 2021. (Seite nicht mehr abrufbar )
- ↑ a b c Römpp Lexikon Chemie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart - New York, 10. Auflage, 1999, S. 4601.
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- ↑ Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Christoph Friedrich, Ulrich Meyer: Arzneimittelgeschichte. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2005, ISBN 3-8047-2113-3, S. 133.
- ↑ Hans Walter Striebel: Therapie chronischer Schmerzen: Ein praktischer Leitfaden. 4. Ausgabe. Schattauer Verlag, 2001, ISBN 978-3-7945-2146-3, S. 24.
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- ↑ a b Bernd Schäfer: Naturstoffe der chemischen Industrie, Elsevier, 2007, S. 255, 256, ISBN 978-3-8274-1614-8.
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