Arthrogryposis multiplex congenita

angeborene Gelenksteife
(Weitergeleitet von Arthrogryposis)
Klassifikation nach ICD-10
Q74.3 Arthrogryposis multiplex congenita
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Unter Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) wird eine angeborene Gelenksteife (Dysmorphie) verstanden. Der Begriff steht für das Zustandsbild. Die AMC entsteht zur Zeit der Organogenese, gegen Ende der ersten drei Schwangerschaftsmonate (8. bis 11. Schwangerschaftswoche). Sie kann einzelne Gelenke betreffen und als ausgedehnte Form mehrere Gelenke bis hin zu Organ- und Gehirnbeteiligung führen. Es finden sich Veränderungen der Muskeln, Sehnen und vor allem des Bindegewebes mit Folgen für die Gelenkkapseln und die Mobilität der Gelenke.

Der Begriff AMC beschreibt ein Krankheitsbild bzw. eine Krankheitsgruppe[1] mit höchst unterschiedlicher Ausprägung.

Synonyme sind: Arthrogryposis; Guérin-Stern-Syndrom; Rossi-Syndrom; Arthromyodysplasie, kongenitale; Kongenitale Amyoplasie; Multiple kongenitale Arthrogrypose; Myodysplasie; lateinisch Myodystrophia fetalis deformans; Amyoplasia congenita; Arthromyodysplasia congenita; englisch Otto syndrome; Rocher-Sheldon syndrome[2]

Verbreitung

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Die Häufigkeit wird mit 1–9 zu 100.000 (mit einer von 3000 Geburten) angegeben.[1]

Erscheinungsformen

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Obwohl die individuelle Ausprägung des Krankheitsbilds sehr unterschiedlich sein kann, sind die Symptome unmittelbar nach der Geburt offenbar. Als typisches Merkmal lassen sich jedoch die Versteifungen (so genannte Kontrakturen) beschreiben, von denen alle Gelenke betroffen sein können und die in allen Bewegungsrichtungen auftreten. Der über das vollständig gestreckte Gelenk (zum Beispiel des Ellenbogens) gespannten Haut fehlen auf der Beugeseite die Hautfalten. Im Gegensatz dazu bilden sich auf der Streckseite typischerweise Grübchen. Die Muskeln der betroffenen Gelenke sind unterentwickelt und somit kraftlos.

Die häufigsten Fehlbildungen betreffen die oberen und unteren Extremitäten: Schultergelenk mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit, Ellenbogengelenk in Beuge- oder häufig auch in Streckstellung eingesteift, Handgelenk oft mit typischer Abwicklung nach außen, Finger einzeln oder alle verbogen und/oder versteift, Daumen häufig zum Handteller eingeschlagen. Bei über 80 Prozent der Betroffenen kommt es zu Deformitäten des Hüftgelenks. Das Kniegelenk weist bei über 60 Prozent der Fälle Beugekontrakturen auf. Häufig treten Klumpfüße, seltener Platt-, Spitz- oder Hackenfuß auf. In schweren Fällen kommt es zu Fehlbildungen der Wirbelsäule, so genannten ausgeprägten Skoliosen.

Ursachen

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Die eigentliche Ursache für das Auftreten der Fehlbildungen ist vielfältig und wird häufig durch mehrere Einflüsse bestimmt. Bestimmte Formen von AMC werden durch eine Punktmutation am ZC4H2-Gen (Zinkfinger-Gen) verursacht.[3] Neben genetisch bedingten Ursachen können äußere Störfaktoren, wie zum Beispiel vorgeburtliche Erkrankungen durch Erreger (Infekte), Medikamente, Gehirnlähmungen ursächlich sein. Bei einem Teil der Betroffenen sind Fehlentwicklungen der Nerven bekannt. Fehlbildung von Muskeln, Sehnen und Gelenkkapseln treten unmittelbar oder infolge der neurologischen Störung auf. Dadurch sind die Gelenke in ihrer Bewegung gehemmt, die Gliedmaße verformt und die Muskelkraft in Teilbereichen herabgesetzt.

Klassifikation

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Je nach Ausprägung des Krankheitsbildes werden verschiedene Typen unterschieden. Gebräuchlich ist die sog. „Münchener Klassifikation“,[4][5] die auf Judith Hall, Seattle, zurückgeht.[6]

Betroffen sind nur die Extremitäten. Je nach Ausprägung werden noch zwei Untergruppen unterschieden:

Weitere Störungen oder Fehlbildungen liegen nicht vor, (Amyoplasie). Die geistige und sensorische Entwicklung verläuft normal.

Neben den Veränderungen des Typ 1 kommen noch Fehlbildungen unterschiedlicher Organe (zum Beispiel Bauchdecke, Harnblase, Kopf, Wirbelsäule) hinzu.

Neben den Dysmorphien liegen noch mehr oder weniger stark ausgeprägte Fehlbildungen der Wirbelsäule und des Zentralnervensystems vor, bis hin zu schwersten Fehlbildungen, Gordon-Syndrom.

Im Rahmen von Syndromen

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Nach der Datenbank Orphanet tritt die Arthrogrypose bei folgenden Erkrankungen auf:

Therapie

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Physiotherapie und Ergotherapie

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Wichtige therapeutische Erfolge bei AMC werden mit Physiotherapie und Ergotherapie erzielt. Die Behandlung sollte so früh wie möglich beginnen. Durch passives Durchbewegen können die versteiften Gelenke schrittweise gelockert werden. Zusätzlich werden Therapien auf neurophysiologischer Basis z. B. nach Vojta und Bobath durchgeführt, bei denen die Muskelaktivitäten, soweit vorhanden, angeregt werden. Die erzielbaren Verbesserungen durch diese Therapien sind in den ersten Jahren besonders groß. So lassen sich später entstehende Fehlstellungen verringern. Ein Basisprogramm sollte langfristig den erreichten Erfolg sichern.

Orthopädische Hilfsmittel

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Orthopädische Schienen oder Schuhe sind für manche Betroffene mit AMC hilfreich. Nach operativen Korrekturen kann das erreichte Ergebnis durch Schienen stabilisiert werden. Betroffene mit sehr schwachen Muskeln können durch leichte Schienen das Gehen erlernen. Dagegen lassen sich die fehlgestellten Gelenke mit so genannten Quengelschienen nicht korrigieren.

Operationen

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Operationen können durchgeführt werden,

  • wenn Betroffene durch die Gelenkfehlstellung so stark behindert sind, dass Hände, Arme oder Beine nicht ausreichend eingesetzt werden können

und

  • wenn an dem betroffenen Gelenk die krankengymnastischen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind.

Fehlstellungen werden soweit korrigiert oder beseitigt, dass die Betroffenen ihre schwache Muskulatur funktionsgerecht einsetzen können.

Wichtigstes Ziel aller orthopädisch-chirurgischen Maßnahmen ist, die Funktion der Gelenke zu verbessern und dem Betroffenen ein möglichst unabhängiges und selbständiges Leben zu ermöglichen.

Selbsthilfe

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Die Interessengemeinschaft Arthrogryposis (IGA) e. V.[25] ist die Selbsthilfeorganisation der von Arthrogryposis multiplex congenita Betroffenen und ihrer Angehörigen im deutschsprachigen Raum. Sie wurde 1992 gegründet und hat heute rund 500 Mitglieder.

Die IGA ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Baden-Württemberg, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) und dem Sozialverband VdK Deutschland.

Medizinhistorische Aspekte

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Zeichnung Ottos eines von Arthrogryposis multiplex congenita betroffenen Kleinkindes, 1841.

Der Anatom Adolph Wilhelm Otto publizierte 1841 in seinem Lehrbuch Monstrorum sexcentorum descriptio anatomica die erste klinische Beschreibung eines von Arthrogryposis multiplex congenita betroffenen Neugeborenen.[26] Die erste Darstellung eines Kranken stammt möglicherweise aus dem Jahr 1568.[27]

Siehe auch

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Literatur

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Einzelnachweise

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  1. a b Eintrag zu Arthrogryposis multiplex congenita. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  2. Rare Diseases
  3. Hiromi Hirata et al.: ZC4H2 Mutations Are Associated with Arthrogryposis Multiplex Congenita and Intellectual Disability through Impairment of Central and Peripheral Synaptic Plasticity. Am J Hum Gen (2013) vol. 92 pp. 681–695
  4. Francesca Oppitz, Eckhard Speulda: Handlungsempfehlung zur Anästhesie bei Arthrogryposis multiplex congenita. (PDF; 200 kB) In: orphananesthesia.eu. 2019, abgerufen am 27. Juli 2024.
  5. H. Bauer, J. Correll, R. Heller, S. Recktenwald: Arthrogryposis multiplex congenita (AMC); 2009, Fachinformation
  6. J. G. Hall: Arthrogryposis multiplex congenita: etiology, genetics, classification, diagnostic approach, and general aspects. In: Journal of pediatric orthopedics. Part B. Band 6, Nummer 3, Juli 1997, S. 159–166, PMID 9260643 (Review).
  7. Eintrag zu Kuskokwim-Syndrom. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  8. Bruck Syndrome I. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  9. Eintrag zu Arthrogrypose - Hyperkeratose, letaler Typ. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  10. Eintrag zu OBSOLET: Arthrogrypose infolge Muskeldystrophie. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  11. Eintrag zu Arthrogrypose-anteriore Hornzellkrankheit-Syndrom. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  12. Arthrogryposis, lethal, with anterior horn cell disease. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  13. Eintrag zu Arthrogryposis multiplex congenita, neurogener Typ. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  14. Eintrag zu Adduzierte Daumen-Arthrogrypose-Syndrom Typ Christian. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  15. Eintrag zu Letales fetales zerebro-reno-urogenitales Agenesie/Hypoplasie-Syndrom. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  16. Meckel syndrome 12. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  17. Eintrag zu Multiples Pterygium-maligne Hyperthermie-Syndrom. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  18. Eintrag zu Myogene Arthrogryposis multiplex congenita, autosomal-rezessive. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  19. Eintrag zu Myopathie, letale, kongenitale, Typ Compton-North. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  20. Myopathy, congenital, Compton-North. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  21. Eintrag zu Pränatale spinale Muskelatrophie mit kongenitalen Knochenbrüchen. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  22. Eintrag zu Spinale Muskelatrophie, infantile, X-chromosomale. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  23. Spinal muscular atrophy, X-linked 2, infantile. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  24. Eintrag zu Arthrogrypose mit okulomotorischen und elektroretinalen Anomalien. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  25. Interessengemeinschaft Arthrogryposis (IGA) e. V. Abgerufen am 20. Juni 2022.
  26. Leonard F. Peltier: The classic. A human monster with inwardly curved extremities. By Adolph Wilhelm Otto, 1841. Clin Orthop Relat Res (1985) (194) pp. 4–5, Übersetzung des Abschnitts zum Thema aus Ottos Monstrorum sexcentorum descriptio anatomica., mit kurzer Einleitung.
  27. T. Anderson: Earliest evidence for arthrogryposis multiplex congenita or Larsen syndrome?. Am J Med Genet (1997) vol. 71 (2) pp. 127-9 PMID 9217208