documenta 5
Die documenta 5 mit dem Titel Befragung der Realität – Bildwelten heute gilt als die bislang wichtigste documenta. Sie fand vom 30. Juni bis 8. Oktober 1972 in Kassel unter der Leitung von Harald Szeemann statt. Die 5. documenta war damit die erste documenta, die zwar mit Arnold Bode im documenta Team, aber nicht unter dessen Oberleitung veranstaltet wurde. Die documenta 5 gilt auch als die weltweit einflussreichste Ausstellung Moderner Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Harald Szeemann veranstaltete die documenta 5 in Abkehr von ihren Vorgängerinnen als ein Ereignis mit politisch-kritischem Hintergrund und provozierenden Ansätzen. Die Kunst sollte aus ihren musealen Zusammenhängen herausgerissen werden. Vom Museum der 100 Tage wurde die documenta zum 100-Tage-Ereignis. Fluxus und Happening-Kunst, die bei der 4. documenta noch nicht vorkamen, fanden hier ihren Platz. Nicht-Kunst und Bildbeiträge aus der Psychiatrie wurden ausgestellt und öffentlich kontrovers diskutiert.
In einem ersten Konzept hatte Szeemann für die documenta 5 eine noch radikalere Abkehr vom musealen Prinzip geplant. Es sollte gar keine statische Ausstellung mehr stattfinden, sondern nur noch die Darstellung von kreativen Prozessen und Entwicklungen. Dieses erste Konzept erwies sich aus finanziellen und organisatorischen Gründen als nicht durchführbar.
Das zweite, realisierte Konzept stellt die Spannungsbeziehung der Kunst zu den parallelen Bildwelten der Nicht-Kunst, der gesellschaftlichen Realität oder der politischen Propaganda in den Mittelpunkt der Ausstellung.
Bazon Brocks „Besucherschule“ diente zum zweiten Mal ausstellungsbegleitend als didaktische Orientierungshilfe. Sie sollte auch die neuen und ungewöhnlichen Inhalte der documenta 5 in vier täglichen Veranstaltungen mit je 80 Minuten Dauer vermitteln. Auch die Besucherschule war ursprünglich aufwändiger geplant und musste in Art und Umfang reduziert werden. Die realisierte Besucherschule fand als „Audiovisuelles Vorwort“ im Erdgeschoss des Fridericianums statt.
Der Katalog zur documenta 5 war kein gebundenes Buch mehr, sondern ein Ringordner, der vom Besucher ergänzt werden konnte.
Das neuartige Ausstellungskonzept und die Inhalte der documenta 5 erregten Widerspruch und erzeugten Protestaktionen, vorwiegend im konservativen Milieu. In den einschlägigen Magazinen und Tageszeitungen wurde – in teilweise deftiger Wortwahl – kritisiert und polemisiert. Dies zeigte Wirkung auch auf ansonsten kunstferne Bevölkerungskreise. So wurde im Namen einer sogenannten „Bauernschaft für Recht und Gerechtigkeit“ von Thies Christophersen[1], einem Landwirt aus dem neofaschistischen Umfeld, eine Fuhre Mist vor dem Museum Fridericianum abgeladen[2].
Mit fast 229.000 Besuchern wurde die Relevanz dieser Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst ein weiteres Mal bestätigt. Die 5. documenta gehört in der Nachbetrachtung weltweit zu den wichtigsten Kunstereignissen des 20. Jahrhunderts.
Ausstellungsorte
BearbeitenDer Umfang der Ausstellung wurde gegenüber ihren Vorgänger-documenten reduziert, die 5. documenta fand nur noch in den Räumen des Museum Fridericianum und der Neuen Galerie statt. Die Ausstellungsarchitektur entwarf Lorenz Dombois, der bereits bei der documenta 3 und der 4. documenta als Assistent von Arnold Bode für die Architektur verantwortlich war.
Die Filmschau der documenta 5 fand im Royal-Kino statt, das sich in unmittelbarer Nähe zum Fridericianum befand.
Kunstwerke
BearbeitenPerformance, wie die spektakulären Beiträge von Vettor Pisani, Rebecca Horn, Paul Cotton und Eugenia Butler gemeinsam als Trans-Parent Teacher’s Ink., James Lee Byars oder Klaus Rinke, sowie Concept-Art (Konzept-Kunst), zum Beispiel von Dan Graham, Walter De Maria, On Kawara oder Joseph Kosuth, und Prozess- und Aktionskunst nahmen erstmals auf einer documenta einen breiten Raum ein.
In der Abteilung Idee + Idee/Licht war die Avantgarde der Konzeptkunst vertreten. Eines der umfangreichsten Werke steuerte die Gruppe Art & Language (mit Terry Atkinson, Harold Hurrell, David Bainbridge, Ian Burn, Michael Baldwin, Charles Harrison, Mel Ramsden und Joseph Kosuth) mit dem Projekt Index 0001 bei, das aus einem ganzen Raum mit zahlreichen Karteikästen mit hunderten von Karteikarten und komplizierten sprachlichen und logischen Bezügen bestand.
Neben den neuen Kunstformen gilt die Ausstellung der Fotorealisten in der Neuen Galerie (Chuck Close, Ralph Goings, Duane Hanson, Franz Gertsch und andere) zu den wichtigen Elementen der 5. documenta.
Joseph Beuys steuerte als Soziale Plastik einen unvergessenen Beitrag zur documenta mit seinem „Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ bei. Zum Ausstellungsschluss am 8. Oktober 1972 trug Beuys im Raum von Ben Vautier im Fridericianum den legendären Boxkampf gegen den Studenten Abraham David Christian (der sich zu dieser Zeit Abraham David Christian-Moebuss nannte) aus, den Beuys in drei Runden mit einem Punktsieg gewann.
Vor dem Fridericianum wurde eine manipulierte Deutschlandfahne (Korrektur der Nationalfarben, 1972) von KP Brehmer aufgezogen, die in den drei unterschiedlich großen Farbflächen schwarz rot gold die ungleiche Vermögensverteilung in Westdeutschland visualisierte.
Im Bereich des Happenings steuerten Künstler des Wiener Aktionismus, wie Hermann Nitsch, Günter Brus oder Rudolf Schwarzkogler, teilweise blutige, teilweise sexuell – enttabuisierende – in jedem Fall provokante Aktionen zur „documenta als Ereignis“ bei.
Unter dem Begriff der „Individuellen Mythologien“ ließ die documenta 5 im Dachgeschoss des Museum Fridericianum einige Künstler mit ihren ganz eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, vielfältigen Ansätzen und Darstellungen von individuellen Traumbildern zu Wort kommen (La Monte Young, Marian Zazeela, Michael Buthe, Étienne Martin, Paul Thek, Nancy Graves und andere).
In den Parallelen Bildwelten, die in der Neuen Galerie ausgestellt wurden, fanden (unter anderem) „Bilderwelten und Frömmigkeit“, „Bildnerei der Geisteskranken“, Politische Propaganda, „Gesellschaftliche Ikonographie“ (40 SPIEGEL-Titel) oder Dokumente aus dem Science-Fiction-Bereich ihren Platz.
Teilnehmende Künstler
BearbeitenInsgesamt nahmen 222 Künstler an der Documenta 5 teil.
Quellen und Literatur
Bearbeiten- Ausstellungskatalog: documenta 5. Befragung der Realität – Bildwelten heute. Katalog (als Aktenordner) Band 1: (Material); Band 2: (Exponatliste); Kassel 1972.
- documenta Archiv (Hrsg.); Wiedervorlage d5 – Eine Befragung des Archivs zur documenta 1972. Kassel/Ostfildern 2001, ISBN 3-7757-1121-X.
- Manfred Schneckenburger (Hrsg.): documenta – Idee und Institution: Tendenzen, Konzepte, Materialien. München 1983, ISBN 3-7654-1902-8.
- Harald Kimpel: documenta, Mythos und Wirklichkeit. Köln 1997, ISBN 3-7701-4182-2.
- Dirk Schwarze: Meilensteine: 50 Jahre documenta. Kassel 2005, ISBN 3-936962-23-5.
- Michael Glasmeier, Karin Stengel (Hrsg.): 50 Jahre/Years documenta 1955–2005. 2 Bände: Diskrete Energien / archive in motion; Kassel 2005, ISBN 3-86521-146-1.
- Kulturamt der Stadt Kassel/documenta Archiv (Hrsg.) / CIS GmbH (Prod.); CD: Documenta 1-9 – Ein Focus auf vier Jahrzehnte Ausstellungsgeschichte / Profiling four decades of exhibition history – 1955–1992. Kassel / Würzburg 1997, ISBN 3-89322-934-5.
- Klaus Staeck (Hrsg.): Befragung der Documenta oder die Kunst soll schön bleiben. Göttingen 1972.
- Harold Rosenberg: Art on the edge: Creators and situations. University of Chicago Press, 1983, ISBN 0-226-72674-6 (Kapitel 5: On the edge: Documenta 5. S. 262ff)
- Maria Bremer: Individuelle Mythologien: Kunst jenseits der Kritik, Berlin 2019
- Maria Bremer: Die documenta 5. Realitätsbefragung als Ideologiekritik und Subjektkonstituierung, OwnReality (27), 2016, online, URL: http://www.perspectivia.net/publikationen/ownreality/27/bremer-de
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Aktion „Mist abladen“ von Thies Christophersen vor dem Museum Fridericianum, Einschreiten der Polizei, Dokument dA-AA-Mp. 10, documenta Archiv
- ↑ Flugblatt: „Mist abladen - Wie lange wollt ihr euch noch frozzeln lassen?“, „Die Bauernschaft - Für Recht und Gerechtigkeit“, herausgegeben von Thies Christophersen vom 22. Juli 1972