Die Reichstagswahl 1912 war die Wahl zum 13. Deutschen Reichstag. Sie fand am 12. Januar 1912 statt. Es war die letzte Wahl des Reichstags vor dem Ersten Weltkrieg und die letzte im Deutschen Kaiserreich überhaupt. Das Parlament konstituierte sich am 7. Februar 1912.
Gesamtergebnis
BearbeitenDie Wahlbeteiligung lag bei rund 85 % und damit etwa so hoch wie bei der Reichstagswahl 1907.
Eindeutiger Wahlsieger war die SPD. Sie erhielt etwa 4,25 Millionen Stimmen (34,8 %) und damit so viele wie noch nie zuvor eine Partei bei Reichstagswahlen. Trotz der Verzerrungen durch das Mehrheitswahlrecht und die Benachteiligung durch die seit 1871 unveränderte Wahlkreiseinteilung stellte sie auch zum ersten Mal mit 110 Abgeordneten die stärkste Fraktion. Nur die Nationalliberale Partei hatte bei den ersten Reichstagswahlen mehr Wahlkreise gewonnen.
Zweitstärkste Fraktion wurde das Zentrum mit 91 Abgeordneten, obwohl es weniger als halb so viele Stimmen wie die SPD bekommen hatte.
Konservative und Nationalliberale, die die Regierung von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg unterstützt hatten, verloren deutlich an Stimmen und Mandaten. Die 1910 als Zusammenschluss mehrerer linksliberaler Parteien gegründete Fortschrittliche Volkspartei verlor im Vergleich zu ihren Vorgängern ebenfalls einige Mandate. Sie hatte Wahlabsprachen mit der SPD getroffen und teilweise einen gemeinsamen Wahlkampf mit den Sozialdemokraten geführt.
Politische Richtung | Parteien | Wählerstimmen | Sitze im Reichstag | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
in Mio. | Anteil | ggüb. 1907 | absolut | Anteil | ggüb. 1907 | ||||
Konservative | Deutschkonservative Partei (Kons) | 1,042 | 8,5 % | −0,9 % | 43 | 10,8 % | −17 | ||
Deutsche Reichspartei (DRP) | 0,367 | 3,0 % | −1,2 % | 14 | 3,5 % | −10 | |||
Liberale | Rechts- | Nationalliberale Partei (NLP) | 1,663 | 13,6 % | −0,9 % | 45 | 11,3 % | −10 | |
Links- | Fortschrittliche Volkspartei (FVP)1) | 1,497 | 12,3 % | +1,3 % | 42 | 10,6 % | −7 | ||
Katholiken | Zentrumspartei | 1,997 | 16,4 % | −3,0 % | 91 | 22,9 % | −14 | ||
Sozialisten | Sozialdemokraten (SPD) | 4,250 | 34,8 % | +5,9 % | 110 | 27,7 % | +67 | ||
Nationale Minderheiten Regionalparteien |
Polen | 0,442 | 3,6 % | −0,4 % | 18 | 4,5 % | −2 | ||
Elsaß-Lothringer | 0,162 | 1,3 % | +0,4 % | 9 | 2,3 % | +2 | |||
Deutsch-Hannoversche Partei (DHP) | 0,085 | 0,7 % | ±0,0 % | 5 | 1,3 % | +4 | |||
Dänen | 0,017 | 0,1 % | ±0,0 % | 1 | 0,3 % | ±0 | |||
Sonstige | Bauernparteien2) | 0,234 | 1,9 % | +0,2 % | 7 | 1,8 % | −2 | ||
Antisemitenparteien3) | 0,300 | 2,5 % | −0,6 % | 10 | 2,5 % | −11 | |||
Sonstige | 0,152 | 1,2 % | −0,8 % | 2 | 0,5 % | ±0 | |||
Gesamt | 12,208 | 100 % | 397 | 100 % | ±0 |
Anmerkungen:
- 1) 1910 gegründet durch Zusammenschluss von Freisinniger Volkspartei (FVp), Freisinniger Vereinigung (FVg) und Deutscher Volkspartei (DtVP). Die Angaben zu Veränderungen gegenüber der Reichstagswahl 1907 beziehen sich auf deren aufsummierten damaligen Ergebnisse
- 2) Sitze (mit Veränderung zu 1907): Bund der Landwirte (BdL) 3 (−5), Bayerischer Bauernbund (BB) 2 (+1), Deutscher Bauernbund (DBB) 2 (neu)
- 3) Sitze (mit Veränderung zu 1907): Deutsche Reformpartei (Ref) 3 (−3), Christlich-Soziale Partei (CSP) 3 (±0), Deutsch-Soziale Partei (DSP) 2 (−6), sonstige 2 (−2)
Gewählte Abgeordnete nach Wahlkreisen
BearbeitenIn jedem der insgesamt 397 Wahlkreise wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt.
Preußen
BearbeitenBayern
BearbeitenSachsen
BearbeitenWürttemberg
BearbeitenBaden
BearbeitenGroßherzogtum Baden | ||||
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1 | Konstanz, Überlingen, Stockach | Carl Diez | Zentrum | |
2 | Donaueschingen, Villingen | Josef Duffner | Zentrum | |
3 | Waldshut, Säckingen, Neustadt im Schwarzwald | Ernst Adolf Birkenmayer | Zentrum | |
4 | Lörrach, Müllheim | Ernst Blankenhorn | NLP | |
5 | Freiburg, Emmendingen | Gerhart von Schulze-Gaevernitz | FVP | |
6 | Lahr, Wolfach | Constantin Fehrenbach | Zentrum | |
7 | Offenburg, Kehl | Leopold Kölsch | NLP | |
8 | Rastatt, Bühl, Baden-Baden | Franz Xaver Lender | Zentrum | |
9 | Pforzheim, Ettlingen | Albert Wittum | NLP | |
10 | Karlsruhe, Bruchsal | Ludwig Haas | FVP | |
11 | Mannheim | Ludwig Frank | SPD | |
12 | Heidelberg, Mosbach | Anton Beck | NLP | |
13 | Bretten, Sinsheim | Johannes Rupp | Kons | |
14 | Tauberbischofsheim, Buchen | Johann Anton Zehnter | Zentrum |
Hessen
BearbeitenGroßherzogtum Hessen | ||||
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1 | Gießen, Grünberg, Nidda | Ferdinand Werner | Antisemiten (WV) | |
2 | Friedberg, Büdingen, Vilbel | Adolf Strack | NLP | |
3 | Lauterbach, Alsfeld, Schotten | Friedrich Heck | NLP | |
4 | Darmstadt, Groß-Gerau | Ludwig Quessel | SPD | |
5 | Offenbach, Dieburg | Carl Ulrich | SPD | |
6 | Erbach, Bensheim, Lindenfels, Neustadt im Odenwald | Ludwig Hasenzahl | SPD | |
7 | Worms, Heppenheim, Wimpfen | Cornelius von Heyl zu Herrnsheim | NLP | |
8 | Bingen, Alzey | Jacob Becker | NLP | |
9 | Mainz, Oppenheim | Eduard David | SPD |
Kleinstaaten
BearbeitenElsaß-Lothringen
BearbeitenReichsland Elsaß-Lothringen[1] | ||||
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1 | Altkirch, Thann | Eugen Ricklin | Elsaß-Lothringisches Zentrum |
|
2 | Mülhausen | Leopold Emmel | SPD | |
3 | Kolmar | Jacques Peirotes | SPD | |
4 | Gebweiler | Albert Thumann | Els.-Lothr. Zentrum | |
5 | Rappoltsweiler | Emile Wetterlé | Els.-Lothr. Zentrum | |
6 | Schlettstadt | Dionysius Will | Els.-Lothr. Zentrum | |
7 | Molsheim, Erstein | Nicolaus Delsor | Els.-Lothr. Zentrum | |
8 | Straßburg-Stadt | Bernhard Böhle | SPD | |
9 | Straßburg-Land | Richard Fuchs | SPD | |
10 | Hagenau, Weißenburg | Karl Hauss | Els.-Lothr. Zentrum | |
11 | Zabern | Adolf Röser | FVP | |
12 | Saargemünd, Forbach | Eugen Schatz | Els.-Lothr. Zentrum | |
13 | Bolchen, Diedenhofen | August Windeck | Unabhängige Lothringische Partei | |
14 | Metz | Georges Weill | SPD | |
15 | Saarburg, Chateau-Salins | Eloy Leveque | Unabhängige Lothringische Partei |
Die Fraktionen des 13. Reichstags
BearbeitenIm 13. Reichstag schlossen sich nicht alle Abgeordneten der Fraktion ihrer eigentlichen Partei an. Der DRP-Abgeordnete Schröder (Elbing), der Zentrumsabgeordnete Oppersdorf (Fraustadt) sowie die nationalliberalen Abgeordneten Becker (Bingen) und von Heyl (Worms) traten nicht den Fraktionen ihrer Parteien bei, sondern blieben fraktionslos. Die deutsch-sozialen und christlich-sozialen Abgeordneten bildeten mit dem BdL-Abgeordneten Gebhardt (Homburg) sowie den Abgeordneten Werner (Gießen) und Vietmayer (Waldeck) die Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung. Die beiden BdL-Abgeordneten Vogt (Hall) und Vogt (Crailsheim) schlossen sich der Fraktion der Konservativen an. Der DBB-Abgeordnete Kerschbaum (Rothenburg/Tauber) trat der Nationalliberalen Fraktion bei. Zu Beginn der 13. Legislaturperiode besaßen die Reichstagsfraktionen die folgende Stärke:[2]
Sozialdemokraten | 110 |
Zentrum | 90 |
Deutschkonservative | 45 |
Nationalliberale | 44 |
Fortschrittliche Volkspartei | 42 |
Polen | 18 |
Deutsche Reichspartei | 13 |
Elsaß-Lothringer | 9 |
Wirtschaftliche Vereinigung | 8 |
Deutsch-Hannoversche Partei | 5 |
Deutsche Reformpartei | 3 |
Fraktionslose | 10 |
Im Verlauf der Legislaturperiode änderte sich aufgrund von Nachwahlen, Abspaltungen und Fraktionswechseln mehrfach sowohl die Anzahl als auch die Stärke der einzelnen Fraktionen.[3]
Begleitumstände
BearbeitenBei den Wahlen von 1912 engagierten sich besonders viele Frauen im Wahlkampf, obwohl sie noch nicht wählen durften – auch wenn viele dieses Ziel in nicht mehr weiter Ferne wähnten. Neben den Sozialistinnen setzten sich viele liberale Frauen für die Parteien ein. So organisierten sie beispielsweise in Städten „Vertrauenfrauen“, die mit der Basis der Frauen Fühlung haben sollten, sie verteilten Flugblätter und hielten Versammlungen ab. Durch dieses Engagement gelang es den Frauen, auch konservative Zeitgenossen für ihre Sache einzunehmen.[4]
Die Reichstagswahl im Januar 1912 brachte der SPD hohe Stimmengewinne. Der politische Antisemitismus und die Parteien der Antisemiten spielten hingegen keine Rolle mehr und konnten nur noch 2,5 Prozent der Stimmen erringen. Radikale Antisemiten sprachen daher frustriert von der „Judenwahl“ und erklärten, die Reichstagsmehrheit sei vom „jüdischen Golde“ beherrscht.[5]
Geschichte des 13. Reichstags 1912 bis 1918
BearbeitenDen linken Kräften gelang es in den Friedensjahren nicht, den von jeher schwachen Reichstag zu stärken. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren alle Parteien im „Burgfrieden“ vereint, auch die vorher anti-militaristische SPD stimmte daher für die Kriegskredite. Im Verlauf des Krieges kam es in dieser Frage zu innerparteilichen Auseinandersetzungen, in deren Folge eine Gruppe von Abgeordneten sich abspaltete und die USPD gründete.
Unterdessen waren 1916 neben dem Zentrum auch die Nationalliberalen unter Führung Gustav Stresemanns mit der Forderung nach mehr parlamentarischer Kontrolle an die Seite von SPD und FVP getreten. Diese neue Konstellation währte allerdings nicht lange, und die von Zentrum, FVP und SPD vertretene Friedensresolution vom 19. Juli 1917 lehnten Nationalliberale wie Konservative ab. Das Parlament, dessen Neuwahl wegen des Krieges verschoben wurde, blieb ohnehin gegen die Oberste Heeresleitung machtlos. Erst am 28. Oktober 1918, wenige Tage vor der Niederlage und der Novemberrevolution, nahm der Reichstag Reformvorschläge des Kanzlers Max von Baden an (so genannte Oktoberverfassung), die einen deutlichen Schritt zum Parlamentarismus bedeutet hätten. Durch die folgenden Ereignisse wurden diese aber überholt.
Der Reichstag war für fünf Jahre gewählt worden, so dass 1917 eine Neuwahl angestanden hätte. Gesetze verlängerten die Legislaturperiode jedoch um jeweils ein Jahr. Man befürchtete, dass bei einer Neuwahl im Krieg die Linken oder die Linksradikalen stärker werden würden. Allerdings wurde dreißigmal ein frei gewordenes Abgeordnetenmandat durch eine Nachwahl besetzt.[6]
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.): Die Reichstagswahlen von 1912. Hefte 1–3. Verlag von Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1913 (Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 250)
- Jürgen Bertram: Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912. Parteien und Verbände in der Innenpolitik des Wilhelminischen Reiches. Droste Verlag, Düsseldorf 1964 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 28)
- Bureau des Reichstags (Hrsg.): Reichstags-Handbuch 13. Legislaturperiode. Berlin 1912
- Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 15). Droste, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7700-5284-4
- Gerhard A. Ritter: Materialien zur Statistik des Kaiserreich 1871–1918. C. H. Beck, München 1980, ISBN 3-406-07610-6
- Wilhelm Heinz Schröder: Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898–1918. Biographisch-statistisches Handbuch (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 2). Droste, Düsseldorf 1986, ISBN 3-7700-5135-1, 355 S.
- Bernd Haunfelder: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871–1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien. Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 4. Droste, Düsseldorf 1999, ISBN 3-7700-5223-4, 425 S.
- Bernd Haunfelder: Die liberalen Abgeordneten des deutschen Reichstags 1871–1918. Ein biographisches Handbuch. Aschendorff, Münster 2004, ISBN 3-402-06614-9, 512 S.
- Bernd Haunfelder: Die konservativen Abgeordneten des deutschen Reichstags von 1871 bis 1918. Ein biographisches Handbuch. Aschendorff, Münster 2009, ISBN 978-3-402-12829-9, 336 S.
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Hermann Hiery: Reichstagswahlen im Reichsland. Droste Verlag, Düsseldorf 1986, ISBN 3-7700-5132-7, Anhang: Biographisches Verzeichnis der im Reichsland Elsaß-Lothringen gewählten Abgeordneten des Deutschen Reichstages 1874–1918, S. 449–471.
- ↑ Reichstagshandbuch 1912. (PDF) Münchener Digitalisierungszentrum, S. 416, abgerufen am 20. November 2009.
- ↑ Reichstagshandbuch 1912 Nachtragsband. (PDF) Münchener Digitalisierungszentrum, S. 34, abgerufen am 20. November 2009.
- ↑ Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln: Böhlau, 2010, S. 140.
- ↑ Kultur, Politik und Öffentlichkeit. (PDF) Dagmar Bussiek, Simona Göbel, abgerufen am 4. Juni 2010.
- ↑ Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung: 1914–1919. W. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1960, S. 121.